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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Den nächsten Sonntag setzte ich die Ar¬
beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich
der Mechanismus derselben sogar unterhielt,
so dachte ich nicht nach über das was ich
schrieb und aufbewahrte. Das erste Viertel¬
jahr mochten sich diese Bemühungen ziemlich
gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬
nem Dünkel, weder besondere Aufklärung
über die Bibel selbst, noch eine freyere An¬
sicht des Dogma's zu finden glaubte: so
schien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬
friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß
ich mit gleichem Eifer das Geschäft hätte
fortsetzen sollen. Die erst so blätterreichen
Canzelreden wurden immer magerer, und ich
hätte zuletzt diese Bemühung ganz abgebro¬
chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund
der Vollständigkeit war, mich durch gute
Worte und Versprechungen dahin gebracht,
daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬
tis aushielt, obgleich am Schlusse kaum et¬
was mehr als der Text, die Proposition und

Den naͤchſten Sonntag ſetzte ich die Ar¬
beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich
der Mechanismus derſelben ſogar unterhielt,
ſo dachte ich nicht nach uͤber das was ich
ſchrieb und aufbewahrte. Das erſte Viertel¬
jahr mochten ſich dieſe Bemuͤhungen ziemlich
gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬
nem Duͤnkel, weder beſondere Aufklaͤrung
uͤber die Bibel ſelbſt, noch eine freyere An¬
ſicht des Dogma's zu finden glaubte: ſo
ſchien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬
friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß
ich mit gleichem Eifer das Geſchaͤft haͤtte
fortſetzen ſollen. Die erſt ſo blaͤtterreichen
Canzelreden wurden immer magerer, und ich
haͤtte zuletzt dieſe Bemuͤhung ganz abgebro¬
chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund
der Vollſtaͤndigkeit war, mich durch gute
Worte und Verſprechungen dahin gebracht,
daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬
tis aushielt, obgleich am Schluſſe kaum et¬
was mehr als der Text, die Propoſition und

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[338/0354] Den naͤchſten Sonntag ſetzte ich die Ar¬ beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich der Mechanismus derſelben ſogar unterhielt, ſo dachte ich nicht nach uͤber das was ich ſchrieb und aufbewahrte. Das erſte Viertel¬ jahr mochten ſich dieſe Bemuͤhungen ziemlich gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬ nem Duͤnkel, weder beſondere Aufklaͤrung uͤber die Bibel ſelbſt, noch eine freyere An¬ ſicht des Dogma's zu finden glaubte: ſo ſchien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬ friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß ich mit gleichem Eifer das Geſchaͤft haͤtte fortſetzen ſollen. Die erſt ſo blaͤtterreichen Canzelreden wurden immer magerer, und ich haͤtte zuletzt dieſe Bemuͤhung ganz abgebro¬ chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund der Vollſtaͤndigkeit war, mich durch gute Worte und Verſprechungen dahin gebracht, daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬ tis aushielt, obgleich am Schluſſe kaum et¬ was mehr als der Text, die Propoſition und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/354>, abgerufen am 28.11.2024.