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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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gelangen, und ein solches Local sollte zugleich
so einfach und faßlich, als mannigfaltig und
zu den wundersamsten Wanderungen und An¬
siedelungen geeignet, vor unserer Einbildungs¬
kraft liegen. Hier, zwischen vier benannten
Flüssen, war aus der ganzen zu bewohnen¬
den Erde ein kleiner höchst anmuthiger Raum
dem jugendlichen Menschen ausgesondert.
Hier sollte er seine ersten Fähigkeiten entwi¬
ckeln, und hier sollte ihn zugleich das Loos
treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft
beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, in¬
dem er nach Erkenntniß strebte. Das Para¬
dies war verscherzt; die Menschen mehrten
und verschlimmerten sich; die an die Unarten
dieses Geschlechts noch nicht gewohnten Elo¬
him wurden ungeduldig und vernichteten es
von Grund aus. Nur wenige wurden aus
der allgemeinen Ueberschwemmung gerettet;
und kaum hatte sich diese gräuliche Flut ver¬
laufen, als der bekannte vaterländische Bo¬
den schon wieder vor den Blicken der dank¬

gelangen, und ein ſolches Local ſollte zugleich
ſo einfach und faßlich, als mannigfaltig und
zu den wunderſamſten Wanderungen und An¬
ſiedelungen geeignet, vor unſerer Einbildungs¬
kraft liegen. Hier, zwiſchen vier benannten
Fluͤſſen, war aus der ganzen zu bewohnen¬
den Erde ein kleiner hoͤchſt anmuthiger Raum
dem jugendlichen Menſchen ausgeſondert.
Hier ſollte er ſeine erſten Faͤhigkeiten entwi¬
ckeln, und hier ſollte ihn zugleich das Loos
treffen, das ſeiner ganzen Nachkommenſchaft
beſchieden war, ſeine Ruhe zu verlieren, in¬
dem er nach Erkenntniß ſtrebte. Das Para¬
dies war verſcherzt; die Menſchen mehrten
und verſchlimmerten ſich; die an die Unarten
dieſes Geſchlechts noch nicht gewohnten Elo¬
him wurden ungeduldig und vernichteten es
von Grund aus. Nur wenige wurden aus
der allgemeinen Ueberſchwemmung gerettet;
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[301/0317] gelangen, und ein ſolches Local ſollte zugleich ſo einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den wunderſamſten Wanderungen und An¬ ſiedelungen geeignet, vor unſerer Einbildungs¬ kraft liegen. Hier, zwiſchen vier benannten Fluͤſſen, war aus der ganzen zu bewohnen¬ den Erde ein kleiner hoͤchſt anmuthiger Raum dem jugendlichen Menſchen ausgeſondert. Hier ſollte er ſeine erſten Faͤhigkeiten entwi¬ ckeln, und hier ſollte ihn zugleich das Loos treffen, das ſeiner ganzen Nachkommenſchaft beſchieden war, ſeine Ruhe zu verlieren, in¬ dem er nach Erkenntniß ſtrebte. Das Para¬ dies war verſcherzt; die Menſchen mehrten und verſchlimmerten ſich; die an die Unarten dieſes Geſchlechts noch nicht gewohnten Elo¬ him wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Ueberſchwemmung gerettet; und kaum hatte ſich dieſe graͤuliche Flut ver¬ laufen, als der bekannte vaterlaͤndiſche Bo¬ den ſchon wieder vor den Blicken der dank¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/317>, abgerufen am 01.09.2024.