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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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sogleich in noch größere Verwirrung, indem
ich mich mit den Händeln über den Cid be¬
kannt machte, und die Vorreden las, in
welchen Corneille und Racine sich gegen Kri¬
tiker und Publicum zu vertheidigen genöthigt
sind. Hier sah ich wenigstens auf das deut¬
lichste, daß kein Mensch wußte was er wollte;
daß ein Stück wie Cid, das die herrlichste
Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines
allmächtigen Cardinal's absolut sollte für
schlecht erklärt werden; daß Racine, der Ab¬
gott der zu meiner Zeit lebenden Franzosen,
der nun auch mein Abgott geworden war
(denn ich hatte ihn näher kennen lernen, als
Schöff von Olenschlager durch uns
Kinder den Britannicus aufführen ließ, wor¬
in mir die Rolle des Nero zu Theil ward)
daß Racine, sage ich, auch zu seiner Zeit
weder mit Liebhabern noch Kunstrichtern fer¬
tig werden können. Durch alles dieses ward
ich verworrner als jemals, und nachdem ich
mich lange mit diesem Hin- und Herreden,

ſogleich in noch groͤßere Verwirrung, indem
ich mich mit den Haͤndeln uͤber den Cid be¬
kannt machte, und die Vorreden las, in
welchen Corneille und Racine ſich gegen Kri¬
tiker und Publicum zu vertheidigen genoͤthigt
ſind. Hier ſah ich wenigſtens auf das deut¬
lichſte, daß kein Menſch wußte was er wollte;
daß ein Stuͤck wie Cid, das die herrlichſte
Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines
allmaͤchtigen Cardinal's abſolut ſollte fuͤr
ſchlecht erklaͤrt werden; daß Racine, der Ab¬
gott der zu meiner Zeit lebenden Franzoſen,
der nun auch mein Abgott geworden war
(denn ich hatte ihn naͤher kennen lernen, als
Schoͤff von Olenſchlager durch uns
Kinder den Britannicus auffuͤhren ließ, wor¬
in mir die Rolle des Nero zu Theil ward)
daß Racine, ſage ich, auch zu ſeiner Zeit
weder mit Liebhabern noch Kunſtrichtern fer¬
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[249/0265] ſogleich in noch groͤßere Verwirrung, indem ich mich mit den Haͤndeln uͤber den Cid be¬ kannt machte, und die Vorreden las, in welchen Corneille und Racine ſich gegen Kri¬ tiker und Publicum zu vertheidigen genoͤthigt ſind. Hier ſah ich wenigſtens auf das deut¬ lichſte, daß kein Menſch wußte was er wollte; daß ein Stuͤck wie Cid, das die herrlichſte Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmaͤchtigen Cardinal's abſolut ſollte fuͤr ſchlecht erklaͤrt werden; daß Racine, der Ab¬ gott der zu meiner Zeit lebenden Franzoſen, der nun auch mein Abgott geworden war (denn ich hatte ihn naͤher kennen lernen, als Schoͤff von Olenſchlager durch uns Kinder den Britannicus auffuͤhren ließ, wor¬ in mir die Rolle des Nero zu Theil ward) daß Racine, ſage ich, auch zu ſeiner Zeit weder mit Liebhabern noch Kunſtrichtern fer¬ tig werden koͤnnen. Durch alles dieſes ward ich verworrner als jemals, und nachdem ich mich lange mit dieſem Hin- und Herreden,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/265>, abgerufen am 02.09.2024.