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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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so daß auch kein Stein auf dem andern
blieb. Er strich aus, setzte zu, nahm eine
Person weg, substituirte eine andere, genug
er verfuhr mit der tollsten Willkühr von der
Welt, daß mir die Haare zu Berge standen.
Mein Vorurtheil, daß er es doch verstehen
müsse, ließ ihn gewähren: denn er hatte mir
schon öfter von den drey Einheiten des Ari¬
stoteles, von der Regelmäßigkeit der französi¬
schen Bühne, von der Wahrscheinlichkeit, von
der Harmonie der Verse und allem was dar¬
an hängt, so viel vorerzählt, daß ich ihn
nicht nur für unterrichtet, sondern auch für
begründet halten mußte. Er schalt auf die
Engländer und verachtete die Deutschen; ge¬
nug, er trug mir die ganze dramaturgische
Litaney vor, die ich in meinem Leben so oft
mußte wiederholen hören.

Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel,
meine zerfetzte Geburt mit nach Hause, und
suchte sie wieder herzustellen; aber vergebens.

ſo daß auch kein Stein auf dem andern
blieb. Er ſtrich aus, ſetzte zu, nahm eine
Perſon weg, ſubſtituirte eine andere, genug
er verfuhr mit der tollſten Willkuͤhr von der
Welt, daß mir die Haare zu Berge ſtanden.
Mein Vorurtheil, daß er es doch verſtehen
muͤſſe, ließ ihn gewaͤhren: denn er hatte mir
ſchon oͤfter von den drey Einheiten des Ari¬
ſtoteles, von der Regelmaͤßigkeit der franzoͤſi¬
ſchen Buͤhne, von der Wahrſcheinlichkeit, von
der Harmonie der Verſe und allem was dar¬
an haͤngt, ſo viel vorerzaͤhlt, daß ich ihn
nicht nur fuͤr unterrichtet, ſondern auch fuͤr
begruͤndet halten mußte. Er ſchalt auf die
Englaͤnder und verachtete die Deutſchen; ge¬
nug, er trug mir die ganze dramaturgiſche
Litaney vor, die ich in meinem Leben ſo oft
mußte wiederholen hoͤren.

Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel,
meine zerfetzte Geburt mit nach Hauſe, und
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[247/0263] ſo daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er ſtrich aus, ſetzte zu, nahm eine Perſon weg, ſubſtituirte eine andere, genug er verfuhr mit der tollſten Willkuͤhr von der Welt, daß mir die Haare zu Berge ſtanden. Mein Vorurtheil, daß er es doch verſtehen muͤſſe, ließ ihn gewaͤhren: denn er hatte mir ſchon oͤfter von den drey Einheiten des Ari¬ ſtoteles, von der Regelmaͤßigkeit der franzoͤſi¬ ſchen Buͤhne, von der Wahrſcheinlichkeit, von der Harmonie der Verſe und allem was dar¬ an haͤngt, ſo viel vorerzaͤhlt, daß ich ihn nicht nur fuͤr unterrichtet, ſondern auch fuͤr begruͤndet halten mußte. Er ſchalt auf die Englaͤnder und verachtete die Deutſchen; ge¬ nug, er trug mir die ganze dramaturgiſche Litaney vor, die ich in meinem Leben ſo oft mußte wiederholen hoͤren. Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mit nach Hauſe, und ſuchte ſie wieder herzuſtellen; aber vergebens.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/263>, abgerufen am 02.09.2024.