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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬
sus der französischen Bühne durchgemacht;
mehrere Stücke kamen schon zum zweyten
und dritten Mal; von der würdigsten Tra¬
gödie bis zum leichtfertigsten Nachspiel war
mir alles vor Augen und Geist vorbeyge¬
gangen; und wie ich als Kind den Terenz
nachzuahmen wagte: so verfehlte ich nunmehr
nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter
dringenden Anlaß, auch die französischen For¬
men nach meinem Vermögen und Unvermö¬
gen zu wiederholen. Es wurden damals
einige halb mythologische, halb allegorische
Stücke im Geschmack des Piron gegeben;
sie hatten etwas von der Parodie und gefie¬
len sehr. Diese Vorstellungen zogen mich
besonders an: die goldnen Flügelchen eines
heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬
ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie
eine von Göttern besuchte Schöne heißen
mochte, wenn es nicht gar eine Schäferinn
oder Jägerinn war, zu der sie sich herunter¬

nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬
ſus der franzoͤſiſchen Buͤhne durchgemacht;
mehrere Stuͤcke kamen ſchon zum zweyten
und dritten Mal; von der wuͤrdigſten Tra¬
goͤdie bis zum leichtfertigſten Nachſpiel war
mir alles vor Augen und Geiſt vorbeyge¬
gangen; und wie ich als Kind den Terenz
nachzuahmen wagte: ſo verfehlte ich nunmehr
nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter
dringenden Anlaß, auch die franzoͤſiſchen For¬
men nach meinem Vermoͤgen und Unvermoͤ¬
gen zu wiederholen. Es wurden damals
einige halb mythologiſche, halb allegoriſche
Stuͤcke im Geſchmack des Piron gegeben;
ſie hatten etwas von der Parodie und gefie¬
len ſehr. Dieſe Vorſtellungen zogen mich
beſonders an: die goldnen Fluͤgelchen eines
heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬
ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie
eine von Goͤttern beſuchte Schoͤne heißen
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[244/0260] nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬ ſus der franzoͤſiſchen Buͤhne durchgemacht; mehrere Stuͤcke kamen ſchon zum zweyten und dritten Mal; von der wuͤrdigſten Tra¬ goͤdie bis zum leichtfertigſten Nachſpiel war mir alles vor Augen und Geiſt vorbeyge¬ gangen; und wie ich als Kind den Terenz nachzuahmen wagte: ſo verfehlte ich nunmehr nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter dringenden Anlaß, auch die franzoͤſiſchen For¬ men nach meinem Vermoͤgen und Unvermoͤ¬ gen zu wiederholen. Es wurden damals einige halb mythologiſche, halb allegoriſche Stuͤcke im Geſchmack des Piron gegeben; ſie hatten etwas von der Parodie und gefie¬ len ſehr. Dieſe Vorſtellungen zogen mich beſonders an: die goldnen Fluͤgelchen eines heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬ ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine von Goͤttern beſuchte Schoͤne heißen mochte, wenn es nicht gar eine Schaͤferinn oder Jaͤgerinn war, zu der ſie ſich herunter¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/260>, abgerufen am 02.09.2024.