Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Iphigenie auf Tauris Habt ihr nur darum mich so manches JahrVon Menschen abgesondert, mich so nah Bey euch gehalten, mir die kindliche Beschäftigung, des heil'gen Feuers Gluth Zu nähren, aufgetragen, meine Seele Der Flamme gleich in ew'ger frommer Klarheit Zu euern Wohnungen hinaufgezogen, Daß ich nur meines Hauses Gräuel später Und tiefer fühlen sollte? -- Sage mir Vom Unglücksel'gen! Sprich mir von Orest! -- Orest. O könnte man von seinem Tode sprechen! Wie gährend stieg aus der Erschlagnen Blut Der Mutter Geist Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu: "Laßt nicht den Muttermörder entfliehn! Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!" Sie horchen auf, es schaut ihr hohler Blick Mit der Begier des Adlers um sich her. Sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen, Und aus den Winkeln schleichen ihre Gefährten, Der Zweifel und die Reue, leis' herbey. Iphigenie auf Tauris Habt ihr nur darum mich ſo manches JahrVon Menſchen abgeſondert, mich ſo nah Bey euch gehalten, mir die kindliche Beſchäftigung, des heil’gen Feuers Gluth Zu nähren, aufgetragen, meine Seele Der Flamme gleich in ew’ger frommer Klarheit Zu euern Wohnungen hinaufgezogen, Daß ich nur meines Hauſes Gräuel ſpäter Und tiefer fühlen ſollte? — Sage mir Vom Unglückſel’gen! Sprich mir von Oreſt! — Oreſt. O könnte man von ſeinem Tode ſprechen! Wie gährend ſtieg aus der Erſchlagnen Blut Der Mutter Geiſt Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu: „Laßt nicht den Muttermörder entfliehn! Verfolgt den Verbrecher! Euch iſt er geweiht!“ Sie horchen auf, es ſchaut ihr hohler Blick Mit der Begier des Adlers um ſich her. Sie rühren ſich in ihren ſchwarzen Höhlen, Und aus den Winkeln ſchleichen ihre Gefährten, Der Zweifel und die Reue, leiſ’ herbey. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#IPH"> <p><pb facs="#f0073" n="64"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Iphigenie auf Tauris</hi></fw><lb/> Habt ihr nur darum mich ſo manches Jahr<lb/> Von Menſchen abgeſondert, mich ſo nah<lb/> Bey euch gehalten, mir die kindliche<lb/> Beſchäftigung, des heil’gen Feuers Gluth<lb/> Zu nähren, aufgetragen, meine Seele<lb/> Der Flamme gleich in ew’ger frommer Klarheit<lb/> Zu euern Wohnungen hinaufgezogen,<lb/> Daß ich nur meines Hauſes Gräuel ſpäter<lb/> Und tiefer fühlen ſollte? — Sage mir<lb/> Vom Unglückſel’gen! Sprich mir von Oreſt! —</p> </sp><lb/> <sp who="#ORE"> <speaker> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Oreſt.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p>O könnte man von ſeinem Tode ſprechen!<lb/> Wie gährend ſtieg aus der Erſchlagnen Blut<lb/> Der Mutter Geiſt<lb/> Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:<lb/> „Laßt nicht den Muttermörder entfliehn!<lb/> Verfolgt den Verbrecher! Euch iſt er geweiht!“<lb/> Sie horchen auf, es ſchaut ihr hohler Blick<lb/> Mit der Begier des Adlers um ſich her.<lb/> Sie rühren ſich in ihren ſchwarzen Höhlen,<lb/> Und aus den Winkeln ſchleichen ihre Gefährten,<lb/> Der Zweifel und die Reue, leiſ’ herbey.<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0073]
Iphigenie auf Tauris
Habt ihr nur darum mich ſo manches Jahr
Von Menſchen abgeſondert, mich ſo nah
Bey euch gehalten, mir die kindliche
Beſchäftigung, des heil’gen Feuers Gluth
Zu nähren, aufgetragen, meine Seele
Der Flamme gleich in ew’ger frommer Klarheit
Zu euern Wohnungen hinaufgezogen,
Daß ich nur meines Hauſes Gräuel ſpäter
Und tiefer fühlen ſollte? — Sage mir
Vom Unglückſel’gen! Sprich mir von Oreſt! —
Oreſt.
O könnte man von ſeinem Tode ſprechen!
Wie gährend ſtieg aus der Erſchlagnen Blut
Der Mutter Geiſt
Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:
„Laßt nicht den Muttermörder entfliehn!
Verfolgt den Verbrecher! Euch iſt er geweiht!“
Sie horchen auf, es ſchaut ihr hohler Blick
Mit der Begier des Adlers um ſich her.
Sie rühren ſich in ihren ſchwarzen Höhlen,
Und aus den Winkeln ſchleichen ihre Gefährten,
Der Zweifel und die Reue, leiſ’ herbey.
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