Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. Tübingen, 1808.
Doch lange hält Er das nicht aus. Du bist schon wieder abgetrieben, Und, währt es länger, aufgerieben In Tollheit oder Angst und Graus. Genug damit! dein Liebchen sitzt dadrinne, Und alles wird ihr eng' und trüb'. Du kommst ihr gar nicht aus dem Sinne, Sie hat dich übermächtig lieb. Erst kam deine Liebeswuth übergeflossen, Wie vom geschmolznen Schnee ein Bächlein übersteigt; Du hast sie ihr in's Herz gegossen, Nun ist dein Bächlein wieder seicht. Mich dünkt, anstatt in Wäldern zu thronen, Ließ es dem großen Herren gut, Das arme affenjunge Blut Für seine Liebe zu belohnen. Die Zeit wird ihr erbärmlich lang; Sie steht am Fenster, sieht die Wolken ziehn Ueber die alte Stadtmauer hin. Wenn ich ein Vöglein wär'! so geht ihr Gesang Tagelang, halbe Nächte lang. Einmal ist sie munter, meist betrübt,
Doch lange haͤlt Er das nicht aus. Du biſt ſchon wieder abgetrieben, Und, waͤhrt es laͤnger, aufgerieben In Tollheit oder Angſt und Graus. Genug damit! dein Liebchen ſitzt dadrinne, Und alles wird ihr eng’ und truͤb’. Du kommſt ihr gar nicht aus dem Sinne, Sie hat dich uͤbermaͤchtig lieb. Erſt kam deine Liebeswuth uͤbergefloſſen, Wie vom geſchmolznen Schnee ein Baͤchlein uͤberſteigt; Du haſt ſie ihr in’s Herz gegoſſen, Nun iſt dein Baͤchlein wieder ſeicht. Mich duͤnkt, anſtatt in Waͤldern zu thronen, Ließ es dem großen Herren gut, Das arme affenjunge Blut Fuͤr ſeine Liebe zu belohnen. Die Zeit wird ihr erbaͤrmlich lang; Sie ſteht am Fenſter, ſieht die Wolken ziehn Ueber die alte Stadtmauer hin. Wenn ich ein Voͤglein waͤr’! ſo geht ihr Geſang Tagelang, halbe Naͤchte lang. Einmal iſt ſie munter, meiſt betruͤbt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MEP"> <p><pb facs="#f0225" n="219"/> Doch lange haͤlt Er das nicht aus.<lb/> Du biſt ſchon wieder abgetrieben,<lb/> Und, waͤhrt es laͤnger, aufgerieben<lb/> In Tollheit oder Angſt und Graus.<lb/> Genug damit! dein Liebchen ſitzt dadrinne,<lb/> Und alles wird ihr eng’ und truͤb’.<lb/> Du kommſt ihr gar nicht aus dem Sinne,<lb/> Sie hat dich uͤbermaͤchtig lieb.<lb/> Erſt kam deine Liebeswuth uͤbergefloſſen,<lb/> Wie vom geſchmolznen Schnee ein Baͤchlein uͤberſteigt;<lb/> Du haſt ſie ihr in’s Herz gegoſſen,<lb/> Nun iſt dein Baͤchlein wieder ſeicht.<lb/> Mich duͤnkt, anſtatt in Waͤldern zu thronen,<lb/> Ließ es dem großen Herren gut,<lb/> Das arme affenjunge Blut<lb/> Fuͤr ſeine Liebe zu belohnen.<lb/> Die Zeit wird ihr erbaͤrmlich lang;<lb/> Sie ſteht am Fenſter, ſieht die Wolken ziehn<lb/> Ueber die alte Stadtmauer hin.<lb/> Wenn ich ein Voͤglein waͤr’! ſo geht ihr Geſang<lb/> Tagelang, halbe Naͤchte lang.<lb/> Einmal iſt ſie munter, meiſt betruͤbt,<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [219/0225]
Doch lange haͤlt Er das nicht aus.
Du biſt ſchon wieder abgetrieben,
Und, waͤhrt es laͤnger, aufgerieben
In Tollheit oder Angſt und Graus.
Genug damit! dein Liebchen ſitzt dadrinne,
Und alles wird ihr eng’ und truͤb’.
Du kommſt ihr gar nicht aus dem Sinne,
Sie hat dich uͤbermaͤchtig lieb.
Erſt kam deine Liebeswuth uͤbergefloſſen,
Wie vom geſchmolznen Schnee ein Baͤchlein uͤberſteigt;
Du haſt ſie ihr in’s Herz gegoſſen,
Nun iſt dein Baͤchlein wieder ſeicht.
Mich duͤnkt, anſtatt in Waͤldern zu thronen,
Ließ es dem großen Herren gut,
Das arme affenjunge Blut
Fuͤr ſeine Liebe zu belohnen.
Die Zeit wird ihr erbaͤrmlich lang;
Sie ſteht am Fenſter, ſieht die Wolken ziehn
Ueber die alte Stadtmauer hin.
Wenn ich ein Voͤglein waͤr’! ſo geht ihr Geſang
Tagelang, halbe Naͤchte lang.
Einmal iſt ſie munter, meiſt betruͤbt,
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