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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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das höhere Rechte niemals oder nur durch Zufall ge-
wollt werden kann.

Man hat, nach unserer Ueberzeugung, noch lange
nicht genug Beyworte aufgesucht, um die Verschieden-
heit der Charactere auszudrücken. Zum Versuch wol-
len wir die Unterschiede, die bey der physischen Lehre
von der Cohärenz statt finden, gleichnißweise gebrau-
chen; und so gäbe es starke, feste, dichte, elastische, bieg-
same, geschmeidige, dehnbare, starre, zähe flüssige und
wer weiß was sonst noch für Charactere. Newtons
Character würden wir unter die starren rechnen, so
wie auch seine Farbentheorie als ein erstarrtes Apercü
anzusehen ist.

Was uns gegenwärtig betrifft, so berühren wir
eigentlich nur den Bezug des Characters auf Wahr-
heit und Irrthum. Der Character bleibt derselbe, er
mag sich dem einen oder der andern ergeben; und so
verringert es die große Hochachtung, die wir für
Newton hegen, nicht im geringsten, wenn wir behaup-
ten: er sey als Mensch, als Beobachter in einen
Irrthum gefallen und habe als Mann von Cha-
racter, als Sectenhaupt, seine Beharrlichkeit eben da-
durch am kräftigsten bethätigt, daß er diesen Irrthum,
trotz allen äußern und innern Warnungen, bis an sein
Ende fest behauptet, ja immer mehr gearbeitet und sich
bemüht ihn auszubreiten, ihn zu befestigen und gegen
alle Angriffe zu schützen.

das hoͤhere Rechte niemals oder nur durch Zufall ge-
wollt werden kann.

Man hat, nach unſerer Ueberzeugung, noch lange
nicht genug Beyworte aufgeſucht, um die Verſchieden-
heit der Charactere auszudruͤcken. Zum Verſuch wol-
len wir die Unterſchiede, die bey der phyſiſchen Lehre
von der Cohaͤrenz ſtatt finden, gleichnißweiſe gebrau-
chen; und ſo gaͤbe es ſtarke, feſte, dichte, elaſtiſche, bieg-
ſame, geſchmeidige, dehnbare, ſtarre, zaͤhe fluͤſſige und
wer weiß was ſonſt noch fuͤr Charactere. Newtons
Character wuͤrden wir unter die ſtarren rechnen, ſo
wie auch ſeine Farbentheorie als ein erſtarrtes Aperç
anzuſehen iſt.

Was uns gegenwaͤrtig betrifft, ſo beruͤhren wir
eigentlich nur den Bezug des Characters auf Wahr-
heit und Irrthum. Der Character bleibt derſelbe, er
mag ſich dem einen oder der andern ergeben; und ſo
verringert es die große Hochachtung, die wir fuͤr
Newton hegen, nicht im geringſten, wenn wir behaup-
ten: er ſey als Menſch, als Beobachter in einen
Irrthum gefallen und habe als Mann von Cha-
racter, als Sectenhaupt, ſeine Beharrlichkeit eben da-
durch am kraͤftigſten bethaͤtigt, daß er dieſen Irrthum,
trotz allen aͤußern und innern Warnungen, bis an ſein
Ende feſt behauptet, ja immer mehr gearbeitet und ſich
bemuͤht ihn auszubreiten, ihn zu befeſtigen und gegen
alle Angriffe zu ſchuͤtzen.

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[479/0513] das hoͤhere Rechte niemals oder nur durch Zufall ge- wollt werden kann. Man hat, nach unſerer Ueberzeugung, noch lange nicht genug Beyworte aufgeſucht, um die Verſchieden- heit der Charactere auszudruͤcken. Zum Verſuch wol- len wir die Unterſchiede, die bey der phyſiſchen Lehre von der Cohaͤrenz ſtatt finden, gleichnißweiſe gebrau- chen; und ſo gaͤbe es ſtarke, feſte, dichte, elaſtiſche, bieg- ſame, geſchmeidige, dehnbare, ſtarre, zaͤhe fluͤſſige und wer weiß was ſonſt noch fuͤr Charactere. Newtons Character wuͤrden wir unter die ſtarren rechnen, ſo wie auch ſeine Farbentheorie als ein erſtarrtes Aperçuͤ anzuſehen iſt. Was uns gegenwaͤrtig betrifft, ſo beruͤhren wir eigentlich nur den Bezug des Characters auf Wahr- heit und Irrthum. Der Character bleibt derſelbe, er mag ſich dem einen oder der andern ergeben; und ſo verringert es die große Hochachtung, die wir fuͤr Newton hegen, nicht im geringſten, wenn wir behaup- ten: er ſey als Menſch, als Beobachter in einen Irrthum gefallen und habe als Mann von Cha- racter, als Sectenhaupt, ſeine Beharrlichkeit eben da- durch am kraͤftigſten bethaͤtigt, daß er dieſen Irrthum, trotz allen aͤußern und innern Warnungen, bis an ſein Ende feſt behauptet, ja immer mehr gearbeitet und ſich bemuͤht ihn auszubreiten, ihn zu befeſtigen und gegen alle Angriffe zu ſchuͤtzen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/513>, abgerufen am 11.05.2024.