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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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der Zeit, auf mancherley Weise verändert, bald belebt
und blühend, bald unaufgeregt und auf eine finstre
und rohe Weise mitgetheilt."

Haben also durch alle Jahrhunderte in allen Kün-
sten und Wissenschaften die Menschen sich fleißig bear-
beitet und geübt, sind sie zu Erkenntnissen gelangt,
eben so wie zu unsrer Zeit, obgleich auf eine veränder-
liche und schwankende Weise, wie es Zeit, Ort und
Gelegenheit erlauben mochten; wie könnten wir nun Dir
Beyfall geben, und unsre Wissenschaft verwerfen als
zweifelhaft und ungewiß? Sollten wir unsre Axiome
Maximen und allgemeine Behauptungen abthun, die
wir von unsern Vorfahren erhalten, und welche durch
die scharfsinnigsten Menschen aller Zeiten sind gebilligt
worden, und nun erst erwarten, daß eine Art und Wei-
se ersonnen werde, welche uns, die wir indeß wieder
zu Abcschützen geworden, durch die Umwegskrümmun-
gen der besondern Erfahrungen, zur Erkenntniß gründ-
lich aufgestellter allgemeiner Sätze hinführen, damit so-
dann wieder neue Grundfesten der Künste und Wissen-
schaften gelegt würden: was dürfte von allem diesem
das Ende seyn, als daß wir entblößt von den Kennt-
nissen, die wir besitzen, ermüdet durch die im Cir-
kel wiederkehrenden Arbeiten, dahin gelangen, wo wir
ausgegangen sind, glücklich genug, wenn wir nur
in den vorigen Zustand wieder zurückversetzt werden.
Mich däucht, so viele Bemühungen voriger Jahrhun-
derte könnten uns gleich jetzt eines bessern überzeugen

der Zeit, auf mancherley Weiſe veraͤndert, bald belebt
und bluͤhend, bald unaufgeregt und auf eine finſtre
und rohe Weiſe mitgetheilt.“

Haben alſo durch alle Jahrhunderte in allen Kuͤn-
ſten und Wiſſenſchaften die Menſchen ſich fleißig bear-
beitet und geuͤbt, ſind ſie zu Erkenntniſſen gelangt,
eben ſo wie zu unſrer Zeit, obgleich auf eine veraͤnder-
liche und ſchwankende Weiſe, wie es Zeit, Ort und
Gelegenheit erlauben mochten; wie koͤnnten wir nun Dir
Beyfall geben, und unſre Wiſſenſchaft verwerfen als
zweifelhaft und ungewiß? Sollten wir unſre Axiome
Maximen und allgemeine Behauptungen abthun, die
wir von unſern Vorfahren erhalten, und welche durch
die ſcharfſinnigſten Menſchen aller Zeiten ſind gebilligt
worden, und nun erſt erwarten, daß eine Art und Wei-
ſe erſonnen werde, welche uns, die wir indeß wieder
zu Abcſchuͤtzen geworden, durch die Umwegskruͤmmun-
gen der beſondern Erfahrungen, zur Erkenntniß gruͤnd-
lich aufgeſtellter allgemeiner Saͤtze hinfuͤhren, damit ſo-
dann wieder neue Grundfeſten der Kuͤnſte und Wiſſen-
ſchaften gelegt wuͤrden: was duͤrfte von allem dieſem
das Ende ſeyn, als daß wir entbloͤßt von den Kennt-
niſſen, die wir beſitzen, ermuͤdet durch die im Cir-
kel wiederkehrenden Arbeiten, dahin gelangen, wo wir
ausgegangen ſind, gluͤcklich genug, wenn wir nur
in den vorigen Zuſtand wieder zuruͤckverſetzt werden.
Mich daͤucht, ſo viele Bemuͤhungen voriger Jahrhun-
derte koͤnnten uns gleich jetzt eines beſſern uͤberzeugen

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[232/0266] der Zeit, auf mancherley Weiſe veraͤndert, bald belebt und bluͤhend, bald unaufgeregt und auf eine finſtre und rohe Weiſe mitgetheilt.“ Haben alſo durch alle Jahrhunderte in allen Kuͤn- ſten und Wiſſenſchaften die Menſchen ſich fleißig bear- beitet und geuͤbt, ſind ſie zu Erkenntniſſen gelangt, eben ſo wie zu unſrer Zeit, obgleich auf eine veraͤnder- liche und ſchwankende Weiſe, wie es Zeit, Ort und Gelegenheit erlauben mochten; wie koͤnnten wir nun Dir Beyfall geben, und unſre Wiſſenſchaft verwerfen als zweifelhaft und ungewiß? Sollten wir unſre Axiome Maximen und allgemeine Behauptungen abthun, die wir von unſern Vorfahren erhalten, und welche durch die ſcharfſinnigſten Menſchen aller Zeiten ſind gebilligt worden, und nun erſt erwarten, daß eine Art und Wei- ſe erſonnen werde, welche uns, die wir indeß wieder zu Abcſchuͤtzen geworden, durch die Umwegskruͤmmun- gen der beſondern Erfahrungen, zur Erkenntniß gruͤnd- lich aufgeſtellter allgemeiner Saͤtze hinfuͤhren, damit ſo- dann wieder neue Grundfeſten der Kuͤnſte und Wiſſen- ſchaften gelegt wuͤrden: was duͤrfte von allem dieſem das Ende ſeyn, als daß wir entbloͤßt von den Kennt- niſſen, die wir beſitzen, ermuͤdet durch die im Cir- kel wiederkehrenden Arbeiten, dahin gelangen, wo wir ausgegangen ſind, gluͤcklich genug, wenn wir nur in den vorigen Zuſtand wieder zuruͤckverſetzt werden. Mich daͤucht, ſo viele Bemuͤhungen voriger Jahrhun- derte koͤnnten uns gleich jetzt eines beſſern uͤberzeugen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/266>, abgerufen am 25.11.2024.