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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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sey nichts was nicht vorher in den Sinnen gewesen;
so ist mir wenigstens wahrscheinlich, daß wenn man,
nach Umwälzung eines platonischen Jahres, die Wis-
senschaft untersuchen wollte, sie weit geringer erfunden
werden möchte, als sie gegenwärtig besteht."


"Wenn Du uns eine herrlichere Lehre versprichst, als
sie jetzt unter uns blühet, die wir von Erfahrungen
hernehmen sollen, indem wir die Verborgenheiten der
Natur erforschen und eröffnen, um im Einzelnen recht
gewiß zu werden; so will das weiter nichts heißen,
als daß du die Menschen dazu anreizest, wozu sie ihr
innerer Trieb auch ohne äußre Anmahnung hinführt.
Denn es ist natürlich, daß unzählige Menschen in allen
Theilen der Welt sich befinden, welche den Weg, auf
den Du deutest, betreten, und zwar mit lebhaftem und
dringendem Fleiß. Denn allen ist das Verlangen zu
wissen eingeboren, so daß man ihren Eifer gar nicht
anzufachen noch zu reizen braucht; eben so wenig als
man nöthig hat, der Wassersucht nachzuhelfen, welche
den Körper ohnehin übermäßig aufschwellt."


"Ich glaube nicht, daß sich derjenige betrügt, welcher
überzeugt ist, daß alle Wissenschaften, wie sie jetzt öffent-
lich gelehrt werden, jederzeit vorhanden gewesen, nicht
aber an allen Orten in gleichem Maaß, noch an ei-
nem Orte in gleicher Zahl, sondern nach dem Geiste

ſey nichts was nicht vorher in den Sinnen geweſen;
ſo iſt mir wenigſtens wahrſcheinlich, daß wenn man,
nach Umwaͤlzung eines platoniſchen Jahres, die Wiſ-
ſenſchaft unterſuchen wollte, ſie weit geringer erfunden
werden moͤchte, als ſie gegenwaͤrtig beſteht.“


„Wenn Du uns eine herrlichere Lehre verſprichſt, als
ſie jetzt unter uns bluͤhet, die wir von Erfahrungen
hernehmen ſollen, indem wir die Verborgenheiten der
Natur erforſchen und eroͤffnen, um im Einzelnen recht
gewiß zu werden; ſo will das weiter nichts heißen,
als daß du die Menſchen dazu anreizeſt, wozu ſie ihr
innerer Trieb auch ohne aͤußre Anmahnung hinfuͤhrt.
Denn es iſt natuͤrlich, daß unzaͤhlige Menſchen in allen
Theilen der Welt ſich befinden, welche den Weg, auf
den Du deuteſt, betreten, und zwar mit lebhaftem und
dringendem Fleiß. Denn allen iſt das Verlangen zu
wiſſen eingeboren, ſo daß man ihren Eifer gar nicht
anzufachen noch zu reizen braucht; eben ſo wenig als
man noͤthig hat, der Waſſerſucht nachzuhelfen, welche
den Koͤrper ohnehin uͤbermaͤßig aufſchwellt.“


„Ich glaube nicht, daß ſich derjenige betruͤgt, welcher
uͤberzeugt iſt, daß alle Wiſſenſchaften, wie ſie jetzt oͤffent-
lich gelehrt werden, jederzeit vorhanden geweſen, nicht
aber an allen Orten in gleichem Maaß, noch an ei-
nem Orte in gleicher Zahl, ſondern nach dem Geiſte

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[231/0265] ſey nichts was nicht vorher in den Sinnen geweſen; ſo iſt mir wenigſtens wahrſcheinlich, daß wenn man, nach Umwaͤlzung eines platoniſchen Jahres, die Wiſ- ſenſchaft unterſuchen wollte, ſie weit geringer erfunden werden moͤchte, als ſie gegenwaͤrtig beſteht.“ „Wenn Du uns eine herrlichere Lehre verſprichſt, als ſie jetzt unter uns bluͤhet, die wir von Erfahrungen hernehmen ſollen, indem wir die Verborgenheiten der Natur erforſchen und eroͤffnen, um im Einzelnen recht gewiß zu werden; ſo will das weiter nichts heißen, als daß du die Menſchen dazu anreizeſt, wozu ſie ihr innerer Trieb auch ohne aͤußre Anmahnung hinfuͤhrt. Denn es iſt natuͤrlich, daß unzaͤhlige Menſchen in allen Theilen der Welt ſich befinden, welche den Weg, auf den Du deuteſt, betreten, und zwar mit lebhaftem und dringendem Fleiß. Denn allen iſt das Verlangen zu wiſſen eingeboren, ſo daß man ihren Eifer gar nicht anzufachen noch zu reizen braucht; eben ſo wenig als man noͤthig hat, der Waſſerſucht nachzuhelfen, welche den Koͤrper ohnehin uͤbermaͤßig aufſchwellt.“ „Ich glaube nicht, daß ſich derjenige betruͤgt, welcher uͤberzeugt iſt, daß alle Wiſſenſchaften, wie ſie jetzt oͤffent- lich gelehrt werden, jederzeit vorhanden geweſen, nicht aber an allen Orten in gleichem Maaß, noch an ei- nem Orte in gleicher Zahl, ſondern nach dem Geiſte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/265>, abgerufen am 22.05.2024.