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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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rade durch diesen Widerstreit des Fixen und Beweglichen
wird die Anwendung der Farbenbenennungen bis auf
den heutigen Tag noch immer schwierig.

So einfach auch die Farben in ihrer ersten ele-
mentaren Erscheinung seyn mögen; so werden sie doch
unendlich mannigfaltig, wenn sie aus ihrem reinen
und gleichsam abstracten Zustande sich in der Wirklich-
keit manifestiren, besonders an Körpern, wo sie tau-
send Zufälligkeiten ausgesetzt sind. Dadurch entspringt
eine Individualisirung bis ins Gränzenlose, wohin
keine Sprache, ja alle Sprachen der Welt zusammen-
genommen, nicht nachreichen.

Nun sind aber die meisten Farbenbenennungen da-
von ausgegangen, daß man einen individuellen Fall
als ein Beyspiel ergriffen, um, nach ihm und an ihm,
andre ähnliche zu bezeichnen. Wenn uns nun das Al-
terthum dergleichen Worte schon genugsam überliefert,
so ist in der Folge der Zeit, durch eine ausgebreitetere
Kenntniß der Welt, natürlicher Körper, ja so vieler
Kunstproducte, bey jeder Nation ein neuer Zuwachs
von Terminologie entstanden, die immer aufs Neue
wieder auf bekannte und unbekannte Gegenstände ange-
wendet, neue Bedenklichkeiten, neue Zweifel und Ir-
rungen hervorbringt; wobey denn doch zuletzt nichts
weiter übrig bleibt, als den Gegenstand, von dem die
Rede ist, recht genau zu kennen, und ihn wo möglich
in der Einbildungskraft zu behalten.


rade durch dieſen Widerſtreit des Fixen und Beweglichen
wird die Anwendung der Farbenbenennungen bis auf
den heutigen Tag noch immer ſchwierig.

So einfach auch die Farben in ihrer erſten ele-
mentaren Erſcheinung ſeyn moͤgen; ſo werden ſie doch
unendlich mannigfaltig, wenn ſie aus ihrem reinen
und gleichſam abſtracten Zuſtande ſich in der Wirklich-
keit manifeſtiren, beſonders an Koͤrpern, wo ſie tau-
ſend Zufaͤlligkeiten ausgeſetzt ſind. Dadurch entſpringt
eine Individualiſirung bis ins Graͤnzenloſe, wohin
keine Sprache, ja alle Sprachen der Welt zuſammen-
genommen, nicht nachreichen.

Nun ſind aber die meiſten Farbenbenennungen da-
von ausgegangen, daß man einen individuellen Fall
als ein Beyſpiel ergriffen, um, nach ihm und an ihm,
andre aͤhnliche zu bezeichnen. Wenn uns nun das Al-
terthum dergleichen Worte ſchon genugſam uͤberliefert,
ſo iſt in der Folge der Zeit, durch eine ausgebreitetere
Kenntniß der Welt, natuͤrlicher Koͤrper, ja ſo vieler
Kunſtproducte, bey jeder Nation ein neuer Zuwachs
von Terminologie entſtanden, die immer aufs Neue
wieder auf bekannte und unbekannte Gegenſtaͤnde ange-
wendet, neue Bedenklichkeiten, neue Zweifel und Ir-
rungen hervorbringt; wobey denn doch zuletzt nichts
weiter uͤbrig bleibt, als den Gegenſtand, von dem die
Rede iſt, recht genau zu kennen, und ihn wo moͤglich
in der Einbildungskraft zu behalten.


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[203/0237] rade durch dieſen Widerſtreit des Fixen und Beweglichen wird die Anwendung der Farbenbenennungen bis auf den heutigen Tag noch immer ſchwierig. So einfach auch die Farben in ihrer erſten ele- mentaren Erſcheinung ſeyn moͤgen; ſo werden ſie doch unendlich mannigfaltig, wenn ſie aus ihrem reinen und gleichſam abſtracten Zuſtande ſich in der Wirklich- keit manifeſtiren, beſonders an Koͤrpern, wo ſie tau- ſend Zufaͤlligkeiten ausgeſetzt ſind. Dadurch entſpringt eine Individualiſirung bis ins Graͤnzenloſe, wohin keine Sprache, ja alle Sprachen der Welt zuſammen- genommen, nicht nachreichen. Nun ſind aber die meiſten Farbenbenennungen da- von ausgegangen, daß man einen individuellen Fall als ein Beyſpiel ergriffen, um, nach ihm und an ihm, andre aͤhnliche zu bezeichnen. Wenn uns nun das Al- terthum dergleichen Worte ſchon genugſam uͤberliefert, ſo iſt in der Folge der Zeit, durch eine ausgebreitetere Kenntniß der Welt, natuͤrlicher Koͤrper, ja ſo vieler Kunſtproducte, bey jeder Nation ein neuer Zuwachs von Terminologie entſtanden, die immer aufs Neue wieder auf bekannte und unbekannte Gegenſtaͤnde ange- wendet, neue Bedenklichkeiten, neue Zweifel und Ir- rungen hervorbringt; wobey denn doch zuletzt nichts weiter uͤbrig bleibt, als den Gegenſtand, von dem die Rede iſt, recht genau zu kennen, und ihn wo moͤglich in der Einbildungskraft zu behalten.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/237>, abgerufen am 23.11.2024.