Gewisse Tugenden gehören der Zeit an, und so auch gewisse Mängel, die einen Bezug auf sie haben.
Die neuere Zeit schätzt sich selbst zu hoch, wegen der großen Masse Stoffes, den sie umfaßt. Der Haupt- vorzug des Menschen beruht aber nur darauf, in wie fern er den Stoff zu behandeln und zu beherrschen weiß.
Es gibt zweyerley Erfahrungsarten, die Erfah- rung des Abwesenden und die des Gegenwärtigen. Die Erfahrung des Abwesenden, wozu das Vergan- gene gehört, machen wir auf fremde Autorität, die des Gegenwärtigen sollten wir auf eigene Autorität machen. Beydes gehörig zu thun, ist die Natur des Individuums durchaus unzulänglich.
Die in einander greifenden Menschen- und Zeital- ter nöthigen uns, eine mehr oder weniger untersuchte Ueberlieferung gelten zu lassen, um so mehr als auf der Möglichkeit dieser Ueberlieferung die Vorzüge des menschlichen Geschlechts beruhen.
Ueberlieferung fremder Erfahrung, fremden Ur- theils sind bey so großen Bedürfnissen der eingeschränk- ten Menschheit höchst willkommen, besonders wenn
Gewiſſe Tugenden gehoͤren der Zeit an, und ſo auch gewiſſe Maͤngel, die einen Bezug auf ſie haben.
Die neuere Zeit ſchaͤtzt ſich ſelbſt zu hoch, wegen der großen Maſſe Stoffes, den ſie umfaßt. Der Haupt- vorzug des Menſchen beruht aber nur darauf, in wie fern er den Stoff zu behandeln und zu beherrſchen weiß.
Es gibt zweyerley Erfahrungsarten, die Erfah- rung des Abweſenden und die des Gegenwaͤrtigen. Die Erfahrung des Abweſenden, wozu das Vergan- gene gehoͤrt, machen wir auf fremde Autoritaͤt, die des Gegenwaͤrtigen ſollten wir auf eigene Autoritaͤt machen. Beydes gehoͤrig zu thun, iſt die Natur des Individuums durchaus unzulaͤnglich.
Die in einander greifenden Menſchen- und Zeital- ter noͤthigen uns, eine mehr oder weniger unterſuchte Ueberlieferung gelten zu laſſen, um ſo mehr als auf der Moͤglichkeit dieſer Ueberlieferung die Vorzuͤge des menſchlichen Geſchlechts beruhen.
Ueberlieferung fremder Erfahrung, fremden Ur- theils ſind bey ſo großen Beduͤrfniſſen der eingeſchraͤnk- ten Menſchheit hoͤchſt willkommen, beſonders wenn
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Gewiſſe Tugenden gehoͤren der Zeit an, und ſo
auch gewiſſe Maͤngel, die einen Bezug auf ſie haben.
Die neuere Zeit ſchaͤtzt ſich ſelbſt zu hoch, wegen
der großen Maſſe Stoffes, den ſie umfaßt. Der Haupt-
vorzug des Menſchen beruht aber nur darauf, in wie
fern er den Stoff zu behandeln und zu beherrſchen
weiß.
Es gibt zweyerley Erfahrungsarten, die Erfah-
rung des Abweſenden und die des Gegenwaͤrtigen.
Die Erfahrung des Abweſenden, wozu das Vergan-
gene gehoͤrt, machen wir auf fremde Autoritaͤt, die
des Gegenwaͤrtigen ſollten wir auf eigene Autoritaͤt
machen. Beydes gehoͤrig zu thun, iſt die Natur des
Individuums durchaus unzulaͤnglich.
Die in einander greifenden Menſchen- und Zeital-
ter noͤthigen uns, eine mehr oder weniger unterſuchte
Ueberlieferung gelten zu laſſen, um ſo mehr als auf
der Moͤglichkeit dieſer Ueberlieferung die Vorzuͤge des
menſchlichen Geſchlechts beruhen.
Ueberlieferung fremder Erfahrung, fremden Ur-
theils ſind bey ſo großen Beduͤrfniſſen der eingeſchraͤnk-
ten Menſchheit hoͤchſt willkommen, beſonders wenn
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/168>, abgerufen am 25.11.2024.
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