Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Man mag sich die Bildung und Wirkung der
Menschen unter welchen Bedingungen man will denken,
so schwanken beyde durch Zeiten und Länder, durch
Einzelnheiten und Massen, die proportionirlich und
unproportionirlich auf einander wirken; und hier liegt
das Inealculable, das Incommensurable der Weltge-
schichte. Gesetz und Zufall greifen in einander, der
betrachtende Mensch aber kommt oft in den Fall beyde
mit einander zu verwechseln, wie sich besonders an
parteyischen Historikern bemerken läßt, die zwar mei-
stens unbewußt, aber doch künstlich genug, sich eben
dieser Unsicherheit zu ihrem Vortheil bedienen.


Der schwache Faden, der sich aus dem manchmal
so breiten Gewebe des Wissens und der Wissenschaften
durch alle Zeiten, selbst die dunkelsten und verworren-
sten, ununterbrochen fortzieht, wird durch Individuen
durchgeführt. Diese werden in einem Jahrhundert
wie in dem andern von der besten Art geboren und
verhalten sich immer auf dieselbe Weise gegen jedes
Jahrhundert, in welchem sie vorkommen. Sie stehen
nämlich mit der Menge im Gegensatz, ja im Wider-
streit. Ausgebildete Zeiten haben hierin nichts vor-
aus vor den barbarischen: denn Tugenden sind zu
jeder Zeit selten, Mängel gemein. Und stellt sich denn
nicht sogar im Individuum eine Menge von Fehlern
der einzelnen Tüchtigkeit entgegen?

Man mag ſich die Bildung und Wirkung der
Menſchen unter welchen Bedingungen man will denken,
ſo ſchwanken beyde durch Zeiten und Laͤnder, durch
Einzelnheiten und Maſſen, die proportionirlich und
unproportionirlich auf einander wirken; und hier liegt
das Inealculable, das Incommenſurable der Weltge-
ſchichte. Geſetz und Zufall greifen in einander, der
betrachtende Menſch aber kommt oft in den Fall beyde
mit einander zu verwechſeln, wie ſich beſonders an
parteyiſchen Hiſtorikern bemerken laͤßt, die zwar mei-
ſtens unbewußt, aber doch kuͤnſtlich genug, ſich eben
dieſer Unſicherheit zu ihrem Vortheil bedienen.


Der ſchwache Faden, der ſich aus dem manchmal
ſo breiten Gewebe des Wiſſens und der Wiſſenſchaften
durch alle Zeiten, ſelbſt die dunkelſten und verworren-
ſten, ununterbrochen fortzieht, wird durch Individuen
durchgefuͤhrt. Dieſe werden in einem Jahrhundert
wie in dem andern von der beſten Art geboren und
verhalten ſich immer auf dieſelbe Weiſe gegen jedes
Jahrhundert, in welchem ſie vorkommen. Sie ſtehen
naͤmlich mit der Menge im Gegenſatz, ja im Wider-
ſtreit. Ausgebildete Zeiten haben hierin nichts vor-
aus vor den barbariſchen: denn Tugenden ſind zu
jeder Zeit ſelten, Maͤngel gemein. Und ſtellt ſich denn
nicht ſogar im Individuum eine Menge von Fehlern
der einzelnen Tuͤchtigkeit entgegen?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0167" n="133"/>
          <p>Man mag &#x017F;ich die Bildung und Wirkung der<lb/>
Men&#x017F;chen unter welchen Bedingungen man will denken,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chwanken beyde durch Zeiten und La&#x0364;nder, durch<lb/>
Einzelnheiten und Ma&#x017F;&#x017F;en, die proportionirlich und<lb/>
unproportionirlich auf einander wirken; und hier liegt<lb/>
das Inealculable, das Incommen&#x017F;urable der Weltge-<lb/>
&#x017F;chichte. Ge&#x017F;etz und Zufall greifen in einander, der<lb/>
betrachtende Men&#x017F;ch aber kommt oft in den Fall beyde<lb/>
mit einander zu verwech&#x017F;eln, wie &#x017F;ich be&#x017F;onders an<lb/>
parteyi&#x017F;chen Hi&#x017F;torikern bemerken la&#x0364;ßt, die zwar mei-<lb/>
&#x017F;tens unbewußt, aber doch ku&#x0364;n&#x017F;tlich genug, &#x017F;ich eben<lb/>
die&#x017F;er Un&#x017F;icherheit zu ihrem Vortheil bedienen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Der &#x017F;chwache Faden, der &#x017F;ich aus dem manchmal<lb/>
&#x017F;o breiten Gewebe des Wi&#x017F;&#x017F;ens und der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
durch alle Zeiten, &#x017F;elb&#x017F;t die dunkel&#x017F;ten und verworren-<lb/>
&#x017F;ten, ununterbrochen fortzieht, wird durch Individuen<lb/>
durchgefu&#x0364;hrt. Die&#x017F;e werden in einem Jahrhundert<lb/>
wie in dem andern von der be&#x017F;ten Art geboren und<lb/>
verhalten &#x017F;ich immer auf die&#x017F;elbe Wei&#x017F;e gegen jedes<lb/>
Jahrhundert, in welchem &#x017F;ie vorkommen. Sie &#x017F;tehen<lb/>
na&#x0364;mlich mit der Menge im Gegen&#x017F;atz, ja im Wider-<lb/>
&#x017F;treit. Ausgebildete Zeiten haben hierin nichts vor-<lb/>
aus vor den barbari&#x017F;chen: denn Tugenden &#x017F;ind zu<lb/>
jeder Zeit &#x017F;elten, Ma&#x0364;ngel gemein. Und &#x017F;tellt &#x017F;ich denn<lb/>
nicht &#x017F;ogar im Individuum eine Menge von Fehlern<lb/>
der einzelnen Tu&#x0364;chtigkeit entgegen?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0167] Man mag ſich die Bildung und Wirkung der Menſchen unter welchen Bedingungen man will denken, ſo ſchwanken beyde durch Zeiten und Laͤnder, durch Einzelnheiten und Maſſen, die proportionirlich und unproportionirlich auf einander wirken; und hier liegt das Inealculable, das Incommenſurable der Weltge- ſchichte. Geſetz und Zufall greifen in einander, der betrachtende Menſch aber kommt oft in den Fall beyde mit einander zu verwechſeln, wie ſich beſonders an parteyiſchen Hiſtorikern bemerken laͤßt, die zwar mei- ſtens unbewußt, aber doch kuͤnſtlich genug, ſich eben dieſer Unſicherheit zu ihrem Vortheil bedienen. Der ſchwache Faden, der ſich aus dem manchmal ſo breiten Gewebe des Wiſſens und der Wiſſenſchaften durch alle Zeiten, ſelbſt die dunkelſten und verworren- ſten, ununterbrochen fortzieht, wird durch Individuen durchgefuͤhrt. Dieſe werden in einem Jahrhundert wie in dem andern von der beſten Art geboren und verhalten ſich immer auf dieſelbe Weiſe gegen jedes Jahrhundert, in welchem ſie vorkommen. Sie ſtehen naͤmlich mit der Menge im Gegenſatz, ja im Wider- ſtreit. Ausgebildete Zeiten haben hierin nichts vor- aus vor den barbariſchen: denn Tugenden ſind zu jeder Zeit ſelten, Maͤngel gemein. Und ſtellt ſich denn nicht ſogar im Individuum eine Menge von Fehlern der einzelnen Tuͤchtigkeit entgegen?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/167
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/167>, abgerufen am 27.04.2024.