Freylich müßte man mit reinem frischen Ohre hin- lauschen, und jedem Vorurtheil selbstsüchtiger Partey- lichkeit, mehr vielleicht als dem Menschen möglich ist, entsagen.
Es gibt zwey Momente der Weltgeschichte, die bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein- zeln und abgesondert, theils höchst verschränkt, sich an Individuen und Völkern zeigen.
Der erste ist derjenige, in welchem sich die Einzel- nen neben einander frey ausbilden; dieß ist die Epoche des Werdens, des Friedens, des Nährens, der Kün- ste, der Wissenschaften, der Gemüthlichkeit, der Ver- nunft. Hier wirkt alles nach innen, und strebt in den besten Zeiten zu einem glücklichen, häuslichen Auf- erbauen; doch lös't sich dieser Zustand zuletzt in Par- teysucht und Anarchie auf.
Die zweyte Epoche ist die des Benutzens, des Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wissens, des Verstandes. Die Wirkungen sind nach außen ge- richtet; im schönsten und höchsten Sinne gewährt die- ser Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewissen Be- dingungen. Leicht artet jedoch ein solcher Zustand in Selbstsucht und Tyranney aus, wo man sich aber kei- nesweges den Tyrannen als eine einzelne Person zu denken nöthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Mas- sen, die höchst gewaltsam und unwiderstehlich ist.
Freylich muͤßte man mit reinem friſchen Ohre hin- lauſchen, und jedem Vorurtheil ſelbſtſuͤchtiger Partey- lichkeit, mehr vielleicht als dem Menſchen moͤglich iſt, entſagen.
Es gibt zwey Momente der Weltgeſchichte, die bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein- zeln und abgeſondert, theils hoͤchſt verſchraͤnkt, ſich an Individuen und Voͤlkern zeigen.
Der erſte iſt derjenige, in welchem ſich die Einzel- nen neben einander frey ausbilden; dieß iſt die Epoche des Werdens, des Friedens, des Naͤhrens, der Kuͤn- ſte, der Wiſſenſchaften, der Gemuͤthlichkeit, der Ver- nunft. Hier wirkt alles nach innen, und ſtrebt in den beſten Zeiten zu einem gluͤcklichen, haͤuslichen Auf- erbauen; doch loͤſ’t ſich dieſer Zuſtand zuletzt in Par- teyſucht und Anarchie auf.
Die zweyte Epoche iſt die des Benutzens, des Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wiſſens, des Verſtandes. Die Wirkungen ſind nach außen ge- richtet; im ſchoͤnſten und hoͤchſten Sinne gewaͤhrt die- ſer Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewiſſen Be- dingungen. Leicht artet jedoch ein ſolcher Zuſtand in Selbſtſucht und Tyranney aus, wo man ſich aber kei- nesweges den Tyrannen als eine einzelne Perſon zu denken noͤthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Maſ- ſen, die hoͤchſt gewaltſam und unwiderſtehlich iſt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0166"n="132"/><p>Freylich muͤßte man mit reinem friſchen Ohre hin-<lb/>
lauſchen, und jedem Vorurtheil ſelbſtſuͤchtiger Partey-<lb/>
lichkeit, mehr vielleicht als dem Menſchen moͤglich iſt,<lb/>
entſagen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Es gibt zwey Momente der Weltgeſchichte, die<lb/>
bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein-<lb/>
zeln und abgeſondert, theils hoͤchſt verſchraͤnkt, ſich an<lb/>
Individuen und Voͤlkern zeigen.</p><lb/><p>Der erſte iſt derjenige, in welchem ſich die Einzel-<lb/>
nen neben einander frey ausbilden; dieß iſt die Epoche<lb/>
des Werdens, des Friedens, des Naͤhrens, der Kuͤn-<lb/>ſte, der Wiſſenſchaften, der Gemuͤthlichkeit, der Ver-<lb/>
nunft. Hier wirkt alles nach innen, und ſtrebt in<lb/>
den beſten Zeiten zu einem gluͤcklichen, haͤuslichen Auf-<lb/>
erbauen; doch loͤſ’t ſich dieſer Zuſtand zuletzt in Par-<lb/>
teyſucht und Anarchie auf.</p><lb/><p>Die zweyte Epoche iſt die des Benutzens, des<lb/>
Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wiſſens,<lb/>
des Verſtandes. Die Wirkungen ſind nach außen ge-<lb/>
richtet; im ſchoͤnſten und hoͤchſten Sinne gewaͤhrt die-<lb/>ſer Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewiſſen Be-<lb/>
dingungen. Leicht artet jedoch ein ſolcher Zuſtand in<lb/>
Selbſtſucht und Tyranney aus, wo man ſich aber kei-<lb/>
nesweges den Tyrannen als eine einzelne Perſon zu<lb/>
denken noͤthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Maſ-<lb/>ſen, die hoͤchſt gewaltſam und unwiderſtehlich iſt.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></body></text></TEI>
[132/0166]
Freylich muͤßte man mit reinem friſchen Ohre hin-
lauſchen, und jedem Vorurtheil ſelbſtſuͤchtiger Partey-
lichkeit, mehr vielleicht als dem Menſchen moͤglich iſt,
entſagen.
Es gibt zwey Momente der Weltgeſchichte, die
bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein-
zeln und abgeſondert, theils hoͤchſt verſchraͤnkt, ſich an
Individuen und Voͤlkern zeigen.
Der erſte iſt derjenige, in welchem ſich die Einzel-
nen neben einander frey ausbilden; dieß iſt die Epoche
des Werdens, des Friedens, des Naͤhrens, der Kuͤn-
ſte, der Wiſſenſchaften, der Gemuͤthlichkeit, der Ver-
nunft. Hier wirkt alles nach innen, und ſtrebt in
den beſten Zeiten zu einem gluͤcklichen, haͤuslichen Auf-
erbauen; doch loͤſ’t ſich dieſer Zuſtand zuletzt in Par-
teyſucht und Anarchie auf.
Die zweyte Epoche iſt die des Benutzens, des
Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wiſſens,
des Verſtandes. Die Wirkungen ſind nach außen ge-
richtet; im ſchoͤnſten und hoͤchſten Sinne gewaͤhrt die-
ſer Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewiſſen Be-
dingungen. Leicht artet jedoch ein ſolcher Zuſtand in
Selbſtſucht und Tyranney aus, wo man ſich aber kei-
nesweges den Tyrannen als eine einzelne Perſon zu
denken noͤthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Maſ-
ſen, die hoͤchſt gewaltſam und unwiderſtehlich iſt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/166>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.