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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem
das Innre, dieser das Aeußere fehlt; so müssen wir
uns die Wissenschaft nothwendig als Kunst denken,
wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit er-
warten. Und zwar haben wir diese nicht im Allge-
meinen im Ueberschwänglichen zu suchen, sondern wie
die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk
darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal
ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.

Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern,
so müßte man keine der menschlichen Kräfte bey wissen-
schaftlicher Thätigkeit ausschließen. Die Abgründe der
Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, ma-
thematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der
Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehn-
suchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen,
nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren
Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein
Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sey, entste-
hen kann.

Wenn diese geforderten Elemente wo nicht wider-
sprechend, doch sich dergestalt gegenüberstehend erschei-
nen möchten, daß auch die vorzüglichsten Geister nicht
hoffen dürften sie zu vereinigen; so liegen sie doch in
der gesammten Menschheit offenbar da, und können
jeden Augenblick hervortreten, wenn sie nicht durch
Vorurtheile, durch Eigensinn einzelner Besitzenden, und
wie sonst alle die verkennenden, zurückschreckenden
und tödtenden Verneinungen heißen mögen, in dem

Ganzes zuſammengebracht werden kann, weil jenem
das Innre, dieſer das Aeußere fehlt; ſo muͤſſen wir
uns die Wiſſenſchaft nothwendig als Kunſt denken,
wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit er-
warten. Und zwar haben wir dieſe nicht im Allge-
meinen im Ueberſchwaͤnglichen zu ſuchen, ſondern wie
die Kunſt ſich immer ganz in jedem einzelnen Kunſtwerk
darſtellt, ſo ſollte die Wiſſenſchaft ſich auch jedesmal
ganz in jedem einzelnen Behandelten erweiſen.

Um aber einer ſolchen Forderung ſich zu naͤhern,
ſo muͤßte man keine der menſchlichen Kraͤfte bey wiſſen-
ſchaftlicher Thaͤtigkeit ausſchließen. Die Abgruͤnde der
Ahndung, ein ſicheres Anſchauen der Gegenwart, ma-
thematiſche Tiefe, phyſiſche Genauigkeit, Hoͤhe der
Vernunft, Schaͤrfe des Verſtandes, bewegliche ſehn-
ſuchtsvolle Phantaſie, liebevolle Freude am Sinnlichen,
nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren
Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein
Kunſtwerk, von welchem Gehalt es auch ſey, entſte-
hen kann.

Wenn dieſe geforderten Elemente wo nicht wider-
ſprechend, doch ſich dergeſtalt gegenuͤberſtehend erſchei-
nen moͤchten, daß auch die vorzuͤglichſten Geiſter nicht
hoffen duͤrften ſie zu vereinigen; ſo liegen ſie doch in
der geſammten Menſchheit offenbar da, und koͤnnen
jeden Augenblick hervortreten, wenn ſie nicht durch
Vorurtheile, durch Eigenſinn einzelner Beſitzenden, und
wie ſonſt alle die verkennenden, zuruͤckſchreckenden
und toͤdtenden Verneinungen heißen moͤgen, in dem

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[120/0154] Ganzes zuſammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieſer das Aeußere fehlt; ſo muͤſſen wir uns die Wiſſenſchaft nothwendig als Kunſt denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit er- warten. Und zwar haben wir dieſe nicht im Allge- meinen im Ueberſchwaͤnglichen zu ſuchen, ſondern wie die Kunſt ſich immer ganz in jedem einzelnen Kunſtwerk darſtellt, ſo ſollte die Wiſſenſchaft ſich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweiſen. Um aber einer ſolchen Forderung ſich zu naͤhern, ſo muͤßte man keine der menſchlichen Kraͤfte bey wiſſen- ſchaftlicher Thaͤtigkeit ausſchließen. Die Abgruͤnde der Ahndung, ein ſicheres Anſchauen der Gegenwart, ma- thematiſche Tiefe, phyſiſche Genauigkeit, Hoͤhe der Vernunft, Schaͤrfe des Verſtandes, bewegliche ſehn- ſuchtsvolle Phantaſie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunſtwerk, von welchem Gehalt es auch ſey, entſte- hen kann. Wenn dieſe geforderten Elemente wo nicht wider- ſprechend, doch ſich dergeſtalt gegenuͤberſtehend erſchei- nen moͤchten, daß auch die vorzuͤglichſten Geiſter nicht hoffen duͤrften ſie zu vereinigen; ſo liegen ſie doch in der geſammten Menſchheit offenbar da, und koͤnnen jeden Augenblick hervortreten, wenn ſie nicht durch Vorurtheile, durch Eigenſinn einzelner Beſitzenden, und wie ſonſt alle die verkennenden, zuruͤckſchreckenden und toͤdtenden Verneinungen heißen moͤgen, in dem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/154>, abgerufen am 23.04.2024.