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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Augenblick, wo sie allein wirksam seyn können, zu-
rückgedrängt werden und die Erscheinung im Entstehen
vernichtet wird.

Vielleicht ist es kühn, aber wenigstens in dieser
Zeit nöthig zu sagen: daß die Gesammtheit jener Ele-
mente vielleicht vor keiner Nation so bereit liegt als
vor der deutschen. Denn ob wir gleich, was Wis-
senschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anar-
chie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck im-
mer mehr zu entfernen scheint; so ist es doch eben diese
Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite
ins Enge, aus der Zerstreuung zur Vereinigung drän-
gen muß.

Niemals haben sich die Individuen vielleicht mehr
vereinzelt und von einander abgesondert als gegenwär-
tig. Jeder möchte das Universum vorstellen und aus
sich darstellen; aber indem er mit Leidenschaft die Na-
tur in sich aufnimmt, so ist er auch das Ueberlieferte,
das was andre geleistet, in sich aufzunehmen genö-
thigt. Thut er es nicht mit Bewußtseyn, so wird es
ihm unbewußt begegnen; empfängt er es nicht offen-
bar und gewissenhaft, so mag er es heimlich und ge-
wissenlos ergreifen; mag er es nicht dankbar anerken-
nen, so werden ihm Andere nachspüren: genug, wenn
er nur Eigenes und Fremdes, unmittelbar und mittel-
bar aus den Händen der Natur oder von Vorgängern
Empfangenes tüchtig zu bearbeiten und einer bedeuten-
den Individualität anzueignen weiß; so wird jederzeit
für alle ein großer Vortheil daraus entstehen. Und

Augenblick, wo ſie allein wirkſam ſeyn koͤnnen, zu-
ruͤckgedraͤngt werden und die Erſcheinung im Entſtehen
vernichtet wird.

Vielleicht iſt es kuͤhn, aber wenigſtens in dieſer
Zeit noͤthig zu ſagen: daß die Geſammtheit jener Ele-
mente vielleicht vor keiner Nation ſo bereit liegt als
vor der deutſchen. Denn ob wir gleich, was Wiſ-
ſenſchaft und Kunſt betrifft, in der ſeltſamſten Anar-
chie leben, die uns von jedem erwuͤnſchten Zweck im-
mer mehr zu entfernen ſcheint; ſo iſt es doch eben dieſe
Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite
ins Enge, aus der Zerſtreuung zur Vereinigung draͤn-
gen muß.

Niemals haben ſich die Individuen vielleicht mehr
vereinzelt und von einander abgeſondert als gegenwaͤr-
tig. Jeder moͤchte das Univerſum vorſtellen und aus
ſich darſtellen; aber indem er mit Leidenſchaft die Na-
tur in ſich aufnimmt, ſo iſt er auch das Ueberlieferte,
das was andre geleiſtet, in ſich aufzunehmen genoͤ-
thigt. Thut er es nicht mit Bewußtſeyn, ſo wird es
ihm unbewußt begegnen; empfaͤngt er es nicht offen-
bar und gewiſſenhaft, ſo mag er es heimlich und ge-
wiſſenlos ergreifen; mag er es nicht dankbar anerken-
nen, ſo werden ihm Andere nachſpuͤren: genug, wenn
er nur Eigenes und Fremdes, unmittelbar und mittel-
bar aus den Haͤnden der Natur oder von Vorgaͤngern
Empfangenes tuͤchtig zu bearbeiten und einer bedeuten-
den Individualitaͤt anzueignen weiß; ſo wird jederzeit
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[121/0155] Augenblick, wo ſie allein wirkſam ſeyn koͤnnen, zu- ruͤckgedraͤngt werden und die Erſcheinung im Entſtehen vernichtet wird. Vielleicht iſt es kuͤhn, aber wenigſtens in dieſer Zeit noͤthig zu ſagen: daß die Geſammtheit jener Ele- mente vielleicht vor keiner Nation ſo bereit liegt als vor der deutſchen. Denn ob wir gleich, was Wiſ- ſenſchaft und Kunſt betrifft, in der ſeltſamſten Anar- chie leben, die uns von jedem erwuͤnſchten Zweck im- mer mehr zu entfernen ſcheint; ſo iſt es doch eben dieſe Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite ins Enge, aus der Zerſtreuung zur Vereinigung draͤn- gen muß. Niemals haben ſich die Individuen vielleicht mehr vereinzelt und von einander abgeſondert als gegenwaͤr- tig. Jeder moͤchte das Univerſum vorſtellen und aus ſich darſtellen; aber indem er mit Leidenſchaft die Na- tur in ſich aufnimmt, ſo iſt er auch das Ueberlieferte, das was andre geleiſtet, in ſich aufzunehmen genoͤ- thigt. Thut er es nicht mit Bewußtſeyn, ſo wird es ihm unbewußt begegnen; empfaͤngt er es nicht offen- bar und gewiſſenhaft, ſo mag er es heimlich und ge- wiſſenlos ergreifen; mag er es nicht dankbar anerken- nen, ſo werden ihm Andere nachſpuͤren: genug, wenn er nur Eigenes und Fremdes, unmittelbar und mittel- bar aus den Haͤnden der Natur oder von Vorgaͤngern Empfangenes tuͤchtig zu bearbeiten und einer bedeuten- den Individualitaͤt anzueignen weiß; ſo wird jederzeit fuͤr alle ein großer Vortheil daraus entſtehen. Und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/155>, abgerufen am 24.04.2024.