Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

menhäufen denken. Was aber den Unterschied vorzüg-
lich bestimmt: die Kunst schließt sich in ihren einzel-
nen Werken ab; die Wissenschaft erscheint uns grän-
zelnos.

Das Glück der griechischen Ausbildung ist schon
oft und trefflich dargestellt worden. Gedenken wir nur
ihrer bildenden Kunst und des damit so nahe verwand-
ten Theaters. An den Vorzügen ihrer Plastik zwei-
felt Niemand. Daß ihre Malerey, ihr Helldunkel,
ihr Colorit eben so hoch gestanden, können wir in
vollkommenen Beyspielen nicht vor Augen stellen; wir
müssen das wenige Uebriggebliebene, die historischen
Nachrichten, die Analogie, den Naturschritt, das
Mögliche zu Hülfe nehmen, wie es der Verfasser des
obenstehenden Aufsatzes gethan, und es wird uns kein
Zweifel übrig bleiben, daß sie auch in diesem Puncte
alle ihre Nachfahren übertroffen.

Zu dem gepriesenen Glück der Griechen muß vor-
züglich gerechnet werden, daß sie durch keine äußre
Einwirkung irre gemacht worden: ein günstiges Ge-
schick, das in der neuern Zeit den Individuen selten,
den Nationen nie zu Theil wird; denn selbst vollkom-
mene Vorbilder machen irre, indem sie uns veranlas-
sen, nothwendige Bildungsstufen zu überspringen, wo-
durch wir denn meistens am Ziel vorbey in einen grän-
zenlosen Irrthum geführt werden.

Kehren wir nun zur Vergleichung der Kunst und
Wissenschaft zurück; so begegnen wir folgender Betrach-
tung: Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein

menhaͤufen denken. Was aber den Unterſchied vorzuͤg-
lich beſtimmt: die Kunſt ſchließt ſich in ihren einzel-
nen Werken ab; die Wiſſenſchaft erſcheint uns graͤn-
zelnos.

Das Gluͤck der griechiſchen Ausbildung iſt ſchon
oft und trefflich dargeſtellt worden. Gedenken wir nur
ihrer bildenden Kunſt und des damit ſo nahe verwand-
ten Theaters. An den Vorzuͤgen ihrer Plaſtik zwei-
felt Niemand. Daß ihre Malerey, ihr Helldunkel,
ihr Colorit eben ſo hoch geſtanden, koͤnnen wir in
vollkommenen Beyſpielen nicht vor Augen ſtellen; wir
muͤſſen das wenige Uebriggebliebene, die hiſtoriſchen
Nachrichten, die Analogie, den Naturſchritt, das
Moͤgliche zu Huͤlfe nehmen, wie es der Verfaſſer des
obenſtehenden Aufſatzes gethan, und es wird uns kein
Zweifel uͤbrig bleiben, daß ſie auch in dieſem Puncte
alle ihre Nachfahren uͤbertroffen.

Zu dem geprieſenen Gluͤck der Griechen muß vor-
zuͤglich gerechnet werden, daß ſie durch keine aͤußre
Einwirkung irre gemacht worden: ein guͤnſtiges Ge-
ſchick, das in der neuern Zeit den Individuen ſelten,
den Nationen nie zu Theil wird; denn ſelbſt vollkom-
mene Vorbilder machen irre, indem ſie uns veranlaſ-
ſen, nothwendige Bildungsſtufen zu uͤberſpringen, wo-
durch wir denn meiſtens am Ziel vorbey in einen graͤn-
zenloſen Irrthum gefuͤhrt werden.

Kehren wir nun zur Vergleichung der Kunſt und
Wiſſenſchaft zuruͤck; ſo begegnen wir folgender Betrach-
tung: Da im Wiſſen ſowohl als in der Reflexion kein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0153" n="119"/>
menha&#x0364;ufen denken. Was aber den Unter&#x017F;chied vorzu&#x0364;g-<lb/>
lich be&#x017F;timmt: die Kun&#x017F;t &#x017F;chließt &#x017F;ich in ihren einzel-<lb/>
nen Werken ab; die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft er&#x017F;cheint uns gra&#x0364;n-<lb/>
zelnos.</p><lb/>
          <p>Das Glu&#x0364;ck der griechi&#x017F;chen Ausbildung i&#x017F;t &#x017F;chon<lb/>
oft und trefflich darge&#x017F;tellt worden. Gedenken wir nur<lb/>
ihrer bildenden Kun&#x017F;t und des damit &#x017F;o nahe verwand-<lb/>
ten Theaters. An den Vorzu&#x0364;gen ihrer Pla&#x017F;tik zwei-<lb/>
felt Niemand. Daß ihre Malerey, ihr Helldunkel,<lb/>
ihr Colorit eben &#x017F;o hoch ge&#x017F;tanden, ko&#x0364;nnen wir in<lb/>
vollkommenen Bey&#x017F;pielen nicht vor Augen &#x017F;tellen; wir<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en das wenige Uebriggebliebene, die hi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
Nachrichten, die Analogie, den Natur&#x017F;chritt, das<lb/>
Mo&#x0364;gliche zu Hu&#x0364;lfe nehmen, wie es der Verfa&#x017F;&#x017F;er des<lb/>
oben&#x017F;tehenden Auf&#x017F;atzes gethan, und es wird uns kein<lb/>
Zweifel u&#x0364;brig bleiben, daß &#x017F;ie auch in die&#x017F;em Puncte<lb/>
alle ihre Nachfahren u&#x0364;bertroffen.</p><lb/>
          <p>Zu dem geprie&#x017F;enen Glu&#x0364;ck der Griechen muß vor-<lb/>
zu&#x0364;glich gerechnet werden, daß &#x017F;ie durch keine a&#x0364;ußre<lb/>
Einwirkung irre gemacht worden: ein gu&#x0364;n&#x017F;tiges Ge-<lb/>
&#x017F;chick, das in der neuern Zeit den Individuen &#x017F;elten,<lb/>
den Nationen nie zu Theil wird; denn &#x017F;elb&#x017F;t vollkom-<lb/>
mene Vorbilder machen irre, indem &#x017F;ie uns veranla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, nothwendige Bildungs&#x017F;tufen zu u&#x0364;ber&#x017F;pringen, wo-<lb/>
durch wir denn mei&#x017F;tens am Ziel vorbey in einen gra&#x0364;n-<lb/>
zenlo&#x017F;en Irrthum gefu&#x0364;hrt werden.</p><lb/>
          <p>Kehren wir nun zur Vergleichung der Kun&#x017F;t und<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zuru&#x0364;ck; &#x017F;o begegnen wir folgender Betrach-<lb/>
tung: Da im Wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;owohl als in der Reflexion kein<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0153] menhaͤufen denken. Was aber den Unterſchied vorzuͤg- lich beſtimmt: die Kunſt ſchließt ſich in ihren einzel- nen Werken ab; die Wiſſenſchaft erſcheint uns graͤn- zelnos. Das Gluͤck der griechiſchen Ausbildung iſt ſchon oft und trefflich dargeſtellt worden. Gedenken wir nur ihrer bildenden Kunſt und des damit ſo nahe verwand- ten Theaters. An den Vorzuͤgen ihrer Plaſtik zwei- felt Niemand. Daß ihre Malerey, ihr Helldunkel, ihr Colorit eben ſo hoch geſtanden, koͤnnen wir in vollkommenen Beyſpielen nicht vor Augen ſtellen; wir muͤſſen das wenige Uebriggebliebene, die hiſtoriſchen Nachrichten, die Analogie, den Naturſchritt, das Moͤgliche zu Huͤlfe nehmen, wie es der Verfaſſer des obenſtehenden Aufſatzes gethan, und es wird uns kein Zweifel uͤbrig bleiben, daß ſie auch in dieſem Puncte alle ihre Nachfahren uͤbertroffen. Zu dem geprieſenen Gluͤck der Griechen muß vor- zuͤglich gerechnet werden, daß ſie durch keine aͤußre Einwirkung irre gemacht worden: ein guͤnſtiges Ge- ſchick, das in der neuern Zeit den Individuen ſelten, den Nationen nie zu Theil wird; denn ſelbſt vollkom- mene Vorbilder machen irre, indem ſie uns veranlaſ- ſen, nothwendige Bildungsſtufen zu uͤberſpringen, wo- durch wir denn meiſtens am Ziel vorbey in einen graͤn- zenloſen Irrthum gefuͤhrt werden. Kehren wir nun zur Vergleichung der Kunſt und Wiſſenſchaft zuruͤck; ſo begegnen wir folgender Betrach- tung: Da im Wiſſen ſowohl als in der Reflexion kein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/153
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/153>, abgerufen am 28.11.2024.