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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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obachtet: Feuer so gut als Rauch, Wasser so gut als
das daraus entspringende Grün, Luft und ihre Trübe,
Erde rein und unrein gedacht. Die apparenten Far-
ben wechseln hin und her; mannigfaltig verändert sich
das Organische; die Werkstätten der Färber werden
besucht und das Unendliche Unbestimmbare des engen
Kreises recht wohl eingesehen.

Wir läugnen nicht, daß uns manchmal der Ge-
danke gekommen, eben gedachtes Büchlein umzuschreiben
mit so wenig Abänderungen als möglich, wie es sich
vielleicht bloß durch Veränderung des Ausdrucks thun
ließe. Eine solche Arbeit wäre wohl fruchtbarer, als
durch einen weitläuftigen Commentar auseinander zu se-
tzen, worin man mit dem Verfasser eins oder uneins
wäre. Jedes gute Buch, und besonders die der Al-
ten, versteht und genießt Niemand, als wer sie suppli-
ren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in
ihnen, als derjenige, der erst lernen will.

Sehen wir uns aber nach den eigentlichen Ursa-
chen um, wodurch die Alten in ihren Vorschritten ge-
hindert worden; so finden wir sie darin, daß ihnen
die Kunst fehlt, Versuche anzustellen, ja sogar der
Sinn dazu. Die Versuche sind Vermittler zwischen
Natur und Begriff, zwischen Natur und Idee, zwi-
schen Begriff und Idee. Die zerstreute Erfahrung
zieht uns allzusehr nieder und ist sogar hinderlich, auch
nur zum Begriff zu gelangen. Jeder Versuch aber
ist schon theoretisirend; er entspringt aus einem Be-
griff oder stellt ihn sogleich auf. Viele einzelne Fälle

obachtet: Feuer ſo gut als Rauch, Waſſer ſo gut als
das daraus entſpringende Gruͤn, Luft und ihre Truͤbe,
Erde rein und unrein gedacht. Die apparenten Far-
ben wechſeln hin und her; mannigfaltig veraͤndert ſich
das Organiſche; die Werkſtaͤtten der Faͤrber werden
beſucht und das Unendliche Unbeſtimmbare des engen
Kreiſes recht wohl eingeſehen.

Wir laͤugnen nicht, daß uns manchmal der Ge-
danke gekommen, eben gedachtes Buͤchlein umzuſchreiben
mit ſo wenig Abaͤnderungen als moͤglich, wie es ſich
vielleicht bloß durch Veraͤnderung des Ausdrucks thun
ließe. Eine ſolche Arbeit waͤre wohl fruchtbarer, als
durch einen weitlaͤuftigen Commentar auseinander zu ſe-
tzen, worin man mit dem Verfaſſer eins oder uneins
waͤre. Jedes gute Buch, und beſonders die der Al-
ten, verſteht und genießt Niemand, als wer ſie ſuppli-
ren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in
ihnen, als derjenige, der erſt lernen will.

Sehen wir uns aber nach den eigentlichen Urſa-
chen um, wodurch die Alten in ihren Vorſchritten ge-
hindert worden; ſo finden wir ſie darin, daß ihnen
die Kunſt fehlt, Verſuche anzuſtellen, ja ſogar der
Sinn dazu. Die Verſuche ſind Vermittler zwiſchen
Natur und Begriff, zwiſchen Natur und Idee, zwi-
ſchen Begriff und Idee. Die zerſtreute Erfahrung
zieht uns allzuſehr nieder und iſt ſogar hinderlich, auch
nur zum Begriff zu gelangen. Jeder Verſuch aber
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griff oder ſtellt ihn ſogleich auf. Viele einzelne Faͤlle

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[117/0151] obachtet: Feuer ſo gut als Rauch, Waſſer ſo gut als das daraus entſpringende Gruͤn, Luft und ihre Truͤbe, Erde rein und unrein gedacht. Die apparenten Far- ben wechſeln hin und her; mannigfaltig veraͤndert ſich das Organiſche; die Werkſtaͤtten der Faͤrber werden beſucht und das Unendliche Unbeſtimmbare des engen Kreiſes recht wohl eingeſehen. Wir laͤugnen nicht, daß uns manchmal der Ge- danke gekommen, eben gedachtes Buͤchlein umzuſchreiben mit ſo wenig Abaͤnderungen als moͤglich, wie es ſich vielleicht bloß durch Veraͤnderung des Ausdrucks thun ließe. Eine ſolche Arbeit waͤre wohl fruchtbarer, als durch einen weitlaͤuftigen Commentar auseinander zu ſe- tzen, worin man mit dem Verfaſſer eins oder uneins waͤre. Jedes gute Buch, und beſonders die der Al- ten, verſteht und genießt Niemand, als wer ſie ſuppli- ren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in ihnen, als derjenige, der erſt lernen will. Sehen wir uns aber nach den eigentlichen Urſa- chen um, wodurch die Alten in ihren Vorſchritten ge- hindert worden; ſo finden wir ſie darin, daß ihnen die Kunſt fehlt, Verſuche anzuſtellen, ja ſogar der Sinn dazu. Die Verſuche ſind Vermittler zwiſchen Natur und Begriff, zwiſchen Natur und Idee, zwi- ſchen Begriff und Idee. Die zerſtreute Erfahrung zieht uns allzuſehr nieder und iſt ſogar hinderlich, auch nur zum Begriff zu gelangen. Jeder Verſuch aber iſt ſchon theoretiſirend; er entſpringt aus einem Be- griff oder ſtellt ihn ſogleich auf. Viele einzelne Faͤlle

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/151>, abgerufen am 26.04.2024.