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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Maßgabe des an ihnen wahrzunehmenden Geschmackes
und Styls gehören sie, ohne Ausnahme, den Zeiten
nach Alexander dem Großen an, und reichen bis da-
hin, als unter Titus die erwähnten beyden Städte
vom Vesuv mit Lava und Asche verschüttet wurden.
Es wäre indessen möglich, daß einige der dort auf-
gefundenen Bilder nur Erfindungen älterer Künstler,
frey und flüchtig nachgeahmt, darstellen. Allein keines
zeigt jene einfache Größe und Ernst des Geschmacks,
wodurch es sich als Originalarbeit eines von den Mei-
stern, welche vor Alexanders Zeiten gelebt haben, an-
kündigte. Vielmehr erscheint überall der Geist einer
schon ausgebildeten üppigen Kunst, der man ohne
Mühe ansehen kann, daß sie nicht im Auf- sondern
im Niedersteigen begriffen ist. Durchgängig, es mögen
nun gute oder bloß handwerksmäßige Maler den Pinsel
geführt haben, wird eine sehr große Leichtigkeit in der
Behandlung wahrgenommen, ein herkömmliches Verfah-
ren nach überlieferten Regeln. Ob schon es eben nicht
wahrscheinlich ist, daß sich unter den in Pompeji und
Herculanum bis jetzt gefundenen antiken Gemälden wirk-
liche Arbeiten hochberühmter Künstler befinden, und
wir also durch diese Entdeckungen noch immer keinen
durchaus vollständigen Begriff erlangen von dem was
die Malerkunst in der Zeit, aus welcher die besagten
Werke stammen, leisten konnte; so haben gleichwohl
diejenigen Kunstrichter, welche alle ohne Ausnahme
für mittelmäßig erklären wollen, sich sehr voreiliger
Urtheile schuldig gemacht, deren Widerlegung zwar
nicht schwer fallen dürfte, doch uns gegenwärtig zu

Maßgabe des an ihnen wahrzunehmenden Geſchmackes
und Styls gehoͤren ſie, ohne Ausnahme, den Zeiten
nach Alexander dem Großen an, und reichen bis da-
hin, als unter Titus die erwaͤhnten beyden Staͤdte
vom Veſuv mit Lava und Aſche verſchuͤttet wurden.
Es waͤre indeſſen moͤglich, daß einige der dort auf-
gefundenen Bilder nur Erfindungen aͤlterer Kuͤnſtler,
frey und fluͤchtig nachgeahmt, darſtellen. Allein keines
zeigt jene einfache Groͤße und Ernſt des Geſchmacks,
wodurch es ſich als Originalarbeit eines von den Mei-
ſtern, welche vor Alexanders Zeiten gelebt haben, an-
kuͤndigte. Vielmehr erſcheint uͤberall der Geiſt einer
ſchon ausgebildeten uͤppigen Kunſt, der man ohne
Muͤhe anſehen kann, daß ſie nicht im Auf- ſondern
im Niederſteigen begriffen iſt. Durchgaͤngig, es moͤgen
nun gute oder bloß handwerksmaͤßige Maler den Pinſel
gefuͤhrt haben, wird eine ſehr große Leichtigkeit in der
Behandlung wahrgenommen, ein herkoͤmmliches Verfah-
ren nach uͤberlieferten Regeln. Ob ſchon es eben nicht
wahrſcheinlich iſt, daß ſich unter den in Pompeji und
Herculanum bis jetzt gefundenen antiken Gemaͤlden wirk-
liche Arbeiten hochberuͤhmter Kuͤnſtler befinden, und
wir alſo durch dieſe Entdeckungen noch immer keinen
durchaus vollſtaͤndigen Begriff erlangen von dem was
die Malerkunſt in der Zeit, aus welcher die beſagten
Werke ſtammen, leiſten konnte; ſo haben gleichwohl
diejenigen Kunſtrichter, welche alle ohne Ausnahme
fuͤr mittelmaͤßig erklaͤren wollen, ſich ſehr voreiliger
Urtheile ſchuldig gemacht, deren Widerlegung zwar
nicht ſchwer fallen duͤrfte, doch uns gegenwaͤrtig zu

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[95/0129] Maßgabe des an ihnen wahrzunehmenden Geſchmackes und Styls gehoͤren ſie, ohne Ausnahme, den Zeiten nach Alexander dem Großen an, und reichen bis da- hin, als unter Titus die erwaͤhnten beyden Staͤdte vom Veſuv mit Lava und Aſche verſchuͤttet wurden. Es waͤre indeſſen moͤglich, daß einige der dort auf- gefundenen Bilder nur Erfindungen aͤlterer Kuͤnſtler, frey und fluͤchtig nachgeahmt, darſtellen. Allein keines zeigt jene einfache Groͤße und Ernſt des Geſchmacks, wodurch es ſich als Originalarbeit eines von den Mei- ſtern, welche vor Alexanders Zeiten gelebt haben, an- kuͤndigte. Vielmehr erſcheint uͤberall der Geiſt einer ſchon ausgebildeten uͤppigen Kunſt, der man ohne Muͤhe anſehen kann, daß ſie nicht im Auf- ſondern im Niederſteigen begriffen iſt. Durchgaͤngig, es moͤgen nun gute oder bloß handwerksmaͤßige Maler den Pinſel gefuͤhrt haben, wird eine ſehr große Leichtigkeit in der Behandlung wahrgenommen, ein herkoͤmmliches Verfah- ren nach uͤberlieferten Regeln. Ob ſchon es eben nicht wahrſcheinlich iſt, daß ſich unter den in Pompeji und Herculanum bis jetzt gefundenen antiken Gemaͤlden wirk- liche Arbeiten hochberuͤhmter Kuͤnſtler befinden, und wir alſo durch dieſe Entdeckungen noch immer keinen durchaus vollſtaͤndigen Begriff erlangen von dem was die Malerkunſt in der Zeit, aus welcher die beſagten Werke ſtammen, leiſten konnte; ſo haben gleichwohl diejenigen Kunſtrichter, welche alle ohne Ausnahme fuͤr mittelmaͤßig erklaͤren wollen, ſich ſehr voreiliger Urtheile ſchuldig gemacht, deren Widerlegung zwar nicht ſchwer fallen duͤrfte, doch uns gegenwaͤrtig zu

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/129>, abgerufen am 20.04.2024.