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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Nachdem wir nun das erste Entsprießen der grie-
chischen Malerey, ihre Blüten und die herrlichen gol-
denen Früchte, die sie zur Zeit ihres höchsten Glanzes
getragen, betrachtet haben, verfolgen wir dieselbe auch
während ihres Sinkens bis zu ihrem endlichen Unter-
gang. Gewiß, es könnte demjenigen nicht an Gründen
fehlen, der eine Naturnothwendigkeit auch hier behaup-
ten und sagen wollte, kein mögliches Mittel sey gewe-
sen, ihren Verfall zu verhindern, da ewige Gesetze so
die Kunst wie alle übrigen Dinge einem Anf- und
Niedersteigen, der Jugend und dem Alter, dem Er-
scheinen und Vergehen unterworfen hätten. Allein die-
ses dürfte uns zu weit von unserm vorgesetzten Zwecke
ableiten, der hier nicht ist, Ursachen zu ergründen,
sondern was wahrscheinlich geschehen ist, darzulegen.

So geschah es also, daß hinter dem Apelles und
Protogenes, deren Werke man als die höchsten Gipfel
der Malerey ansehen kann, die Kunst, durch immer
versuchte Neuerungen, an Gehalt, an Styl, an Rein-
heit der Formen und des Geschmacks immer mehr ab-
nahm.

Aus den freylich sehr mangelhaften Nachrichten,
die uns davon noch übrig sind, läßt sich schließen,
daß Maler aufgestanden, welche vornehmlich die Wir-
kung fürs Auge bezweckten; andere, welche bey gemei-
nen Gegenständen durch das Gefällige der Ausführung;
andere, die sich durch Witz und Laune des Inhalts
Beyfall zu erwerben gesucht. Noch von andern wird
ausdrücklich gemeldet, sie hätten sich vorzüglich durch

Nachdem wir nun das erſte Entſprießen der grie-
chiſchen Malerey, ihre Bluͤten und die herrlichen gol-
denen Fruͤchte, die ſie zur Zeit ihres hoͤchſten Glanzes
getragen, betrachtet haben, verfolgen wir dieſelbe auch
waͤhrend ihres Sinkens bis zu ihrem endlichen Unter-
gang. Gewiß, es koͤnnte demjenigen nicht an Gruͤnden
fehlen, der eine Naturnothwendigkeit auch hier behaup-
ten und ſagen wollte, kein moͤgliches Mittel ſey gewe-
ſen, ihren Verfall zu verhindern, da ewige Geſetze ſo
die Kunſt wie alle uͤbrigen Dinge einem Anf- und
Niederſteigen, der Jugend und dem Alter, dem Er-
ſcheinen und Vergehen unterworfen haͤtten. Allein die-
ſes duͤrfte uns zu weit von unſerm vorgeſetzten Zwecke
ableiten, der hier nicht iſt, Urſachen zu ergruͤnden,
ſondern was wahrſcheinlich geſchehen iſt, darzulegen.

So geſchah es alſo, daß hinter dem Apelles und
Protogenes, deren Werke man als die hoͤchſten Gipfel
der Malerey anſehen kann, die Kunſt, durch immer
verſuchte Neuerungen, an Gehalt, an Styl, an Rein-
heit der Formen und des Geſchmacks immer mehr ab-
nahm.

Aus den freylich ſehr mangelhaften Nachrichten,
die uns davon noch uͤbrig ſind, laͤßt ſich ſchließen,
daß Maler aufgeſtanden, welche vornehmlich die Wir-
kung fuͤrs Auge bezweckten; andere, welche bey gemei-
nen Gegenſtaͤnden durch das Gefaͤllige der Ausfuͤhrung;
andere, die ſich durch Witz und Laune des Inhalts
Beyfall zu erwerben geſucht. Noch von andern wird
ausdruͤcklich gemeldet, ſie haͤtten ſich vorzuͤglich durch

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[93/0127] Nachdem wir nun das erſte Entſprießen der grie- chiſchen Malerey, ihre Bluͤten und die herrlichen gol- denen Fruͤchte, die ſie zur Zeit ihres hoͤchſten Glanzes getragen, betrachtet haben, verfolgen wir dieſelbe auch waͤhrend ihres Sinkens bis zu ihrem endlichen Unter- gang. Gewiß, es koͤnnte demjenigen nicht an Gruͤnden fehlen, der eine Naturnothwendigkeit auch hier behaup- ten und ſagen wollte, kein moͤgliches Mittel ſey gewe- ſen, ihren Verfall zu verhindern, da ewige Geſetze ſo die Kunſt wie alle uͤbrigen Dinge einem Anf- und Niederſteigen, der Jugend und dem Alter, dem Er- ſcheinen und Vergehen unterworfen haͤtten. Allein die- ſes duͤrfte uns zu weit von unſerm vorgeſetzten Zwecke ableiten, der hier nicht iſt, Urſachen zu ergruͤnden, ſondern was wahrſcheinlich geſchehen iſt, darzulegen. So geſchah es alſo, daß hinter dem Apelles und Protogenes, deren Werke man als die hoͤchſten Gipfel der Malerey anſehen kann, die Kunſt, durch immer verſuchte Neuerungen, an Gehalt, an Styl, an Rein- heit der Formen und des Geſchmacks immer mehr ab- nahm. Aus den freylich ſehr mangelhaften Nachrichten, die uns davon noch uͤbrig ſind, laͤßt ſich ſchließen, daß Maler aufgeſtanden, welche vornehmlich die Wir- kung fuͤrs Auge bezweckten; andere, welche bey gemei- nen Gegenſtaͤnden durch das Gefaͤllige der Ausfuͤhrung; andere, die ſich durch Witz und Laune des Inhalts Beyfall zu erwerben geſucht. Noch von andern wird ausdruͤcklich gemeldet, ſie haͤtten ſich vorzuͤglich durch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/127>, abgerufen am 20.04.2024.