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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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fache Localfarbe vom Grund, auf den sie gearbeitet
waren, unterschieden, vorgeschritten; dann wurden,
als man sich nach und nach im Besitz von mehreren
Farben sah, dieselben von großen Künstlern zu sinn-
voller Bedeutung, aber wie wir zu glauben geneigt
sind, alle noch immer bloß als Localfarbe gebraucht,
ohne durch Abstufung von helleren und dunkleren Tönen
die Wirkung des Lichts und Schattens nachahmen zu
wollen.

Denn wenn uns die neuere Kunstgeschichte belehrt,
daß erst nach langen und schweren Bemühungen das
Helldunkel an natürlichen Gegenständen richtig wahrge-
nommen werden konnte, obgleich die Tradition davon
aus dem Alterthum einigermaßen noch übrig war, wie
sehr viel größere Schwierigkeiten hatten nicht die Alten
zu besiegen, da sie sich den Begriff selbst neu erschaf-
fen mußten! Auch ist kein einziger wahrscheinlicher
Grund und keine alte Nachricht vorhanden, nach wel-
chen vermuthet werden dürfte, daß in Polygnots Ge-
mälden bereits Licht und Schatten angegeben gewesen.
Vielmehr läßt das Symbolische seiner Darstellungen,
die vielen Figuren, die er auf Gemälden angebracht
und Reihenweise geordnet, schließen, daß die Angabe
von Licht und Schatten von ihm noch nicht bezweckt
worden. Hingegen ist wohl nicht zu zweifeln, daß
dieses vom Apollodorus, einem Athenienser, der sich
um die vierundneunzigste Olympiade berühmt gemacht,
geschehen sey. Selbst Plinius bemerkt, daß von den
vor diesem Meister verfertigten Gemälden kein einzi-

fache Localfarbe vom Grund, auf den ſie gearbeitet
waren, unterſchieden, vorgeſchritten; dann wurden,
als man ſich nach und nach im Beſitz von mehreren
Farben ſah, dieſelben von großen Kuͤnſtlern zu ſinn-
voller Bedeutung, aber wie wir zu glauben geneigt
ſind, alle noch immer bloß als Localfarbe gebraucht,
ohne durch Abſtufung von helleren und dunkleren Toͤnen
die Wirkung des Lichts und Schattens nachahmen zu
wollen.

Denn wenn uns die neuere Kunſtgeſchichte belehrt,
daß erſt nach langen und ſchweren Bemuͤhungen das
Helldunkel an natuͤrlichen Gegenſtaͤnden richtig wahrge-
nommen werden konnte, obgleich die Tradition davon
aus dem Alterthum einigermaßen noch uͤbrig war, wie
ſehr viel groͤßere Schwierigkeiten hatten nicht die Alten
zu beſiegen, da ſie ſich den Begriff ſelbſt neu erſchaf-
fen mußten! Auch iſt kein einziger wahrſcheinlicher
Grund und keine alte Nachricht vorhanden, nach wel-
chen vermuthet werden duͤrfte, daß in Polygnots Ge-
maͤlden bereits Licht und Schatten angegeben geweſen.
Vielmehr laͤßt das Symboliſche ſeiner Darſtellungen,
die vielen Figuren, die er auf Gemaͤlden angebracht
und Reihenweiſe geordnet, ſchließen, daß die Angabe
von Licht und Schatten von ihm noch nicht bezweckt
worden. Hingegen iſt wohl nicht zu zweifeln, daß
dieſes vom Apollodorus, einem Athenienſer, der ſich
um die vierundneunzigſte Olympiade beruͤhmt gemacht,
geſchehen ſey. Selbſt Plinius bemerkt, daß von den
vor dieſem Meiſter verfertigten Gemaͤlden kein einzi-

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[79/0113] fache Localfarbe vom Grund, auf den ſie gearbeitet waren, unterſchieden, vorgeſchritten; dann wurden, als man ſich nach und nach im Beſitz von mehreren Farben ſah, dieſelben von großen Kuͤnſtlern zu ſinn- voller Bedeutung, aber wie wir zu glauben geneigt ſind, alle noch immer bloß als Localfarbe gebraucht, ohne durch Abſtufung von helleren und dunkleren Toͤnen die Wirkung des Lichts und Schattens nachahmen zu wollen. Denn wenn uns die neuere Kunſtgeſchichte belehrt, daß erſt nach langen und ſchweren Bemuͤhungen das Helldunkel an natuͤrlichen Gegenſtaͤnden richtig wahrge- nommen werden konnte, obgleich die Tradition davon aus dem Alterthum einigermaßen noch uͤbrig war, wie ſehr viel groͤßere Schwierigkeiten hatten nicht die Alten zu beſiegen, da ſie ſich den Begriff ſelbſt neu erſchaf- fen mußten! Auch iſt kein einziger wahrſcheinlicher Grund und keine alte Nachricht vorhanden, nach wel- chen vermuthet werden duͤrfte, daß in Polygnots Ge- maͤlden bereits Licht und Schatten angegeben geweſen. Vielmehr laͤßt das Symboliſche ſeiner Darſtellungen, die vielen Figuren, die er auf Gemaͤlden angebracht und Reihenweiſe geordnet, ſchließen, daß die Angabe von Licht und Schatten von ihm noch nicht bezweckt worden. Hingegen iſt wohl nicht zu zweifeln, daß dieſes vom Apollodorus, einem Athenienſer, der ſich um die vierundneunzigſte Olympiade beruͤhmt gemacht, geſchehen ſey. Selbſt Plinius bemerkt, daß von den vor dieſem Meiſter verfertigten Gemaͤlden kein einzi-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/113>, abgerufen am 28.03.2024.