fügt. Und hier werden wir freylich an jene Un- vollständigkeit und Unvollkommenheit erinnert, wel- che unser Werk mit allen Werken dieser Art ge- mein hat.
Denn wie ein gutes Theaterstück eigentlich kaum zur Hälfte zu Papier gebracht werden kann, vielmehr der größere Theil desselben dem Glanz der Bühne, der Persönlichkeit des Schauspielers, der Kraft seiner Stimme, der Eigenthümlichkeit seiner Bewegungen, ja dem Geiste und der guten Laune des Zuschauers anheim gegeben bleibt; so ist es noch viel mehr der Fall mit einem Buche, das von natürlichen Erscheinungen handelt. Wenn es genossen, wenn es genutzt werden soll, so muß dem Leser die Natur entweder wirklich oder in leb- hafter Phantasie gegenwärtig seyn. Denn eigent- lich sollte der Schreibende sprechen, und seinen Zuhörern die Phänomene, theils wie sie uns unge- sucht entgegenkommen, theils wie sie durch absicht- liche Vorrichtungen nach Zweck und Willen darge-
fuͤgt. Und hier werden wir freylich an jene Un- vollſtaͤndigkeit und Unvollkommenheit erinnert, wel- che unſer Werk mit allen Werken dieſer Art ge- mein hat.
Denn wie ein gutes Theaterſtuͤck eigentlich kaum zur Haͤlfte zu Papier gebracht werden kann, vielmehr der groͤßere Theil deſſelben dem Glanz der Buͤhne, der Perſoͤnlichkeit des Schauſpielers, der Kraft ſeiner Stimme, der Eigenthuͤmlichkeit ſeiner Bewegungen, ja dem Geiſte und der guten Laune des Zuſchauers anheim gegeben bleibt; ſo iſt es noch viel mehr der Fall mit einem Buche, das von natuͤrlichen Erſcheinungen handelt. Wenn es genoſſen, wenn es genutzt werden ſoll, ſo muß dem Leſer die Natur entweder wirklich oder in leb- hafter Phantaſie gegenwaͤrtig ſeyn. Denn eigent- lich ſollte der Schreibende ſprechen, und ſeinen Zuhoͤrern die Phaͤnomene, theils wie ſie uns unge- ſucht entgegenkommen, theils wie ſie durch abſicht- liche Vorrichtungen nach Zweck und Willen darge-
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[XXIV/0030]
fuͤgt. Und hier werden wir freylich an jene Un-
vollſtaͤndigkeit und Unvollkommenheit erinnert, wel-
che unſer Werk mit allen Werken dieſer Art ge-
mein hat.
Denn wie ein gutes Theaterſtuͤck eigentlich
kaum zur Haͤlfte zu Papier gebracht werden kann,
vielmehr der groͤßere Theil deſſelben dem Glanz
der Buͤhne, der Perſoͤnlichkeit des Schauſpielers,
der Kraft ſeiner Stimme, der Eigenthuͤmlichkeit
ſeiner Bewegungen, ja dem Geiſte und der guten
Laune des Zuſchauers anheim gegeben bleibt; ſo
iſt es noch viel mehr der Fall mit einem Buche, das
von natuͤrlichen Erſcheinungen handelt. Wenn es
genoſſen, wenn es genutzt werden ſoll, ſo muß
dem Leſer die Natur entweder wirklich oder in leb-
hafter Phantaſie gegenwaͤrtig ſeyn. Denn eigent-
lich ſollte der Schreibende ſprechen, und ſeinen
Zuhoͤrern die Phaͤnomene, theils wie ſie uns unge-
ſucht entgegenkommen, theils wie ſie durch abſicht-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/30>, abgerufen am 22.12.2024.
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