behaupten, daß die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sey. Man kann dasjenige, was man besitzt, nicht rein erkennen, bis man das, was andre vor uns besessen, zu erkennen weiß. Man wird sich an den Vorzügen seiner Zeit nicht wahr- haft und redlich freuen, wenn man die Vorzüge der Vergangenheit nicht zu würdigen versteht. Aber eine Geschichte der Farbenlehre zu schreiben oder auch nur vorzubereiten war unmöglich, so lange die Newtonische Lehre bestand. Denn kein aristokratischer Dünkel hat jemals mit solchem un- erträglichen Uebermuthe auf diejenigen herabgesehen, die nicht zu seiner Gilde gehörten, als die New- tonische Schule von jeher über alles abgesprochen hat, was vor ihr geleistet war und neben ihr ge- leistet ward. Mit Verdruß und Unwillen sieht man, wie Priestley in seiner Geschichte der Optik, und so manche vor und nach ihm, das Heil der Farbenwelt von der Epoche eines gespalten seyn sol- lenden Lichtes herdatiren, und mit hohem Aug- braun auf die ältern und mittleren herabsehen, die
behaupten, daß die Geſchichte der Wiſſenſchaft die Wiſſenſchaft ſelbſt ſey. Man kann dasjenige, was man beſitzt, nicht rein erkennen, bis man das, was andre vor uns beſeſſen, zu erkennen weiß. Man wird ſich an den Vorzuͤgen ſeiner Zeit nicht wahr- haft und redlich freuen, wenn man die Vorzuͤge der Vergangenheit nicht zu wuͤrdigen verſteht. Aber eine Geſchichte der Farbenlehre zu ſchreiben oder auch nur vorzubereiten war unmoͤglich, ſo lange die Newtoniſche Lehre beſtand. Denn kein ariſtokratiſcher Duͤnkel hat jemals mit ſolchem un- ertraͤglichen Uebermuthe auf diejenigen herabgeſehen, die nicht zu ſeiner Gilde gehoͤrten, als die New- toniſche Schule von jeher uͤber alles abgeſprochen hat, was vor ihr geleiſtet war und neben ihr ge- leiſtet ward. Mit Verdruß und Unwillen ſieht man, wie Prieſtley in ſeiner Geſchichte der Optik, und ſo manche vor und nach ihm, das Heil der Farbenwelt von der Epoche eines geſpalten ſeyn ſol- lenden Lichtes herdatiren, und mit hohem Aug- braun auf die aͤltern und mittleren herabſehen, die
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[XX/0026]
behaupten, daß die Geſchichte der Wiſſenſchaft die
Wiſſenſchaft ſelbſt ſey. Man kann dasjenige, was
man beſitzt, nicht rein erkennen, bis man das, was
andre vor uns beſeſſen, zu erkennen weiß. Man
wird ſich an den Vorzuͤgen ſeiner Zeit nicht wahr-
haft und redlich freuen, wenn man die Vorzuͤge
der Vergangenheit nicht zu wuͤrdigen verſteht.
Aber eine Geſchichte der Farbenlehre zu ſchreiben
oder auch nur vorzubereiten war unmoͤglich, ſo
lange die Newtoniſche Lehre beſtand. Denn kein
ariſtokratiſcher Duͤnkel hat jemals mit ſolchem un-
ertraͤglichen Uebermuthe auf diejenigen herabgeſehen,
die nicht zu ſeiner Gilde gehoͤrten, als die New-
toniſche Schule von jeher uͤber alles abgeſprochen
hat, was vor ihr geleiſtet war und neben ihr ge-
leiſtet ward. Mit Verdruß und Unwillen ſieht
man, wie Prieſtley in ſeiner Geſchichte der Optik,
und ſo manche vor und nach ihm, das Heil der
Farbenwelt von der Epoche eines geſpalten ſeyn ſol-
lenden Lichtes herdatiren, und mit hohem Aug-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/26>, abgerufen am 22.12.2024.
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