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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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lassen bleibt. Hier aber ist zu bemerken, daß,
ob man sich gleich überall an die Erfahrungen ge-
halten, sie überall zum Grunde gelegt, doch die
theoretische Ansicht nicht verschwiegen werden konn-
te, welche den Anlaß zu jener Aufstellung und
Anordnung gegeben.

Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung,
die wohl manchmal gemacht, aber auch selbst von
denen, die sie machen, nicht erfüllt wird: Erfah-
rungen solle man ohne irgend ein theoretisches Band
vortragen, und dem Leser, dem Schüler überlas-
sen, sich selbst nach Belieben irgend eine Ueber-
zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei-
ner Sache kann uns nicht fördern. Jedes Anse-
hen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen,
und so kann man sagen, daß wir schon bey jedem
aufmerksamen Blick in die Welt theoretisiren. Die-
ses aber mit Bewußtseyn, mit Selbstkenntniß,
mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-

laſſen bleibt. Hier aber iſt zu bemerken, daß,
ob man ſich gleich uͤberall an die Erfahrungen ge-
halten, ſie uͤberall zum Grunde gelegt, doch die
theoretiſche Anſicht nicht verſchwiegen werden konn-
te, welche den Anlaß zu jener Aufſtellung und
Anordnung gegeben.

Iſt es doch eine hoͤchſt wunderliche Forderung,
die wohl manchmal gemacht, aber auch ſelbſt von
denen, die ſie machen, nicht erfuͤllt wird: Erfah-
rungen ſolle man ohne irgend ein theoretiſches Band
vortragen, und dem Leſer, dem Schuͤler uͤberlaſ-
ſen, ſich ſelbſt nach Belieben irgend eine Ueber-
zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei-
ner Sache kann uns nicht foͤrdern. Jedes Anſe-
hen geht uͤber in ein Betrachten, jedes Betrachten
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknuͤpfen,
und ſo kann man ſagen, daß wir ſchon bey jedem
aufmerkſamen Blick in die Welt theoretiſiren. Die-
ſes aber mit Bewußtſeyn, mit Selbſtkenntniß,
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[XIV/0020] laſſen bleibt. Hier aber iſt zu bemerken, daß, ob man ſich gleich uͤberall an die Erfahrungen ge- halten, ſie uͤberall zum Grunde gelegt, doch die theoretiſche Anſicht nicht verſchwiegen werden konn- te, welche den Anlaß zu jener Aufſtellung und Anordnung gegeben. Iſt es doch eine hoͤchſt wunderliche Forderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch ſelbſt von denen, die ſie machen, nicht erfuͤllt wird: Erfah- rungen ſolle man ohne irgend ein theoretiſches Band vortragen, und dem Leſer, dem Schuͤler uͤberlaſ- ſen, ſich ſelbſt nach Belieben irgend eine Ueber- zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei- ner Sache kann uns nicht foͤrdern. Jedes Anſe- hen geht uͤber in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknuͤpfen, und ſo kann man ſagen, daß wir ſchon bey jedem aufmerkſamen Blick in die Welt theoretiſiren. Die- ſes aber mit Bewußtſeyn, mit Selbſtkenntniß, mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/20>, abgerufen am 18.04.2024.