lassen bleibt. Hier aber ist zu bemerken, daß, ob man sich gleich überall an die Erfahrungen ge- halten, sie überall zum Grunde gelegt, doch die theoretische Ansicht nicht verschwiegen werden konn- te, welche den Anlaß zu jener Aufstellung und Anordnung gegeben.
Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch selbst von denen, die sie machen, nicht erfüllt wird: Erfah- rungen solle man ohne irgend ein theoretisches Band vortragen, und dem Leser, dem Schüler überlas- sen, sich selbst nach Belieben irgend eine Ueber- zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei- ner Sache kann uns nicht fördern. Jedes Anse- hen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bey jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisiren. Die- ses aber mit Bewußtseyn, mit Selbstkenntniß, mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-
laſſen bleibt. Hier aber iſt zu bemerken, daß, ob man ſich gleich uͤberall an die Erfahrungen ge- halten, ſie uͤberall zum Grunde gelegt, doch die theoretiſche Anſicht nicht verſchwiegen werden konn- te, welche den Anlaß zu jener Aufſtellung und Anordnung gegeben.
Iſt es doch eine hoͤchſt wunderliche Forderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch ſelbſt von denen, die ſie machen, nicht erfuͤllt wird: Erfah- rungen ſolle man ohne irgend ein theoretiſches Band vortragen, und dem Leſer, dem Schuͤler uͤberlaſ- ſen, ſich ſelbſt nach Belieben irgend eine Ueber- zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei- ner Sache kann uns nicht foͤrdern. Jedes Anſe- hen geht uͤber in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknuͤpfen, und ſo kann man ſagen, daß wir ſchon bey jedem aufmerkſamen Blick in die Welt theoretiſiren. Die- ſes aber mit Bewußtſeyn, mit Selbſtkenntniß, mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0020"n="XIV"/>
laſſen bleibt. Hier aber iſt zu bemerken, daß,<lb/>
ob man ſich gleich uͤberall an die Erfahrungen ge-<lb/>
halten, ſie uͤberall zum Grunde gelegt, doch die<lb/>
theoretiſche Anſicht nicht verſchwiegen werden konn-<lb/>
te, welche den Anlaß zu jener Aufſtellung und<lb/>
Anordnung gegeben.</p><lb/><p>Iſt es doch eine hoͤchſt wunderliche Forderung,<lb/>
die wohl manchmal gemacht, aber auch ſelbſt von<lb/>
denen, die ſie machen, nicht erfuͤllt wird: Erfah-<lb/>
rungen ſolle man ohne irgend ein theoretiſches Band<lb/>
vortragen, und dem Leſer, dem Schuͤler uͤberlaſ-<lb/>ſen, ſich ſelbſt nach Belieben irgend eine Ueber-<lb/>
zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei-<lb/>
ner Sache kann uns nicht foͤrdern. Jedes Anſe-<lb/>
hen geht uͤber in ein Betrachten, jedes Betrachten<lb/>
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknuͤpfen,<lb/>
und ſo kann man ſagen, daß wir ſchon bey jedem<lb/>
aufmerkſamen Blick in die Welt theoretiſiren. Die-<lb/>ſes aber mit Bewußtſeyn, mit Selbſtkenntniß,<lb/>
mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[XIV/0020]
laſſen bleibt. Hier aber iſt zu bemerken, daß,
ob man ſich gleich uͤberall an die Erfahrungen ge-
halten, ſie uͤberall zum Grunde gelegt, doch die
theoretiſche Anſicht nicht verſchwiegen werden konn-
te, welche den Anlaß zu jener Aufſtellung und
Anordnung gegeben.
Iſt es doch eine hoͤchſt wunderliche Forderung,
die wohl manchmal gemacht, aber auch ſelbſt von
denen, die ſie machen, nicht erfuͤllt wird: Erfah-
rungen ſolle man ohne irgend ein theoretiſches Band
vortragen, und dem Leſer, dem Schuͤler uͤberlaſ-
ſen, ſich ſelbſt nach Belieben irgend eine Ueber-
zeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken ei-
ner Sache kann uns nicht foͤrdern. Jedes Anſe-
hen geht uͤber in ein Betrachten, jedes Betrachten
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknuͤpfen,
und ſo kann man ſagen, daß wir ſchon bey jedem
aufmerkſamen Blick in die Welt theoretiſiren. Die-
ſes aber mit Bewußtſeyn, mit Selbſtkenntniß,
mit Freyheit, und um uns eines gewagten Wor-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/20>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.