zur Tafel und Trinkgelagen zugelassen, wo er vorzüglich von europäischer Verfassung, Sitte, Religion dem schon wohlunterrich- teten, wissensbegierigen Fürsten Rechen- schaft zu geben hat.
Im Orient überhaupt, besonders aber in Persien, findet sich eine gewisse Naivi- tät und Unschuld des Betragens durch alle Stände bis zur Nähe des Throns. Zwar zeigt sich auf der obern Stufe eine ent- schiedene Förmlichkeit, bey Audienzen, Tafeln und sonst; bald aber entsteht in des Kaisers Umgebung eine Art von Carnevals- Freyheit, die sich höchst scherzhaft aus- nimmt. Erlustigt sich der Kaiser in Gär- ten und Kiosken, so darf niemand in Stie- feln auf die Teppiche treten worauf der Hof sich befindet. Ein tartarischer Fürst kömmt an, man zieht ihm den Stiefel aus; aber er, nicht geübt auf Einem Beine zu stehen, fängt an zu wanken; der Kaiser selbst tritt nun hinzu und hält ihn, bis die Operation vorüber ist. Gegen Abend steht der Kaiser in einem Hofzirkel in welchem goldene, weingefüllte Schaalen herumkrei- sen; mehrere von mässigem Gewicht, einige
zur Tafel und Trinkgelagen zugelassen, wo er vorzüglich von europäischer Verfassung, Sitte, Religion dem schon wohlunterrich- teten, wissensbegierigen Fürsten Rechen- schaft zu geben hat.
Im Orient überhaupt, besonders aber in Persien, findet sich eine gewisse Naivi- tät und Unschuld des Betragens durch alle Stände bis zur Nähe des Throns. Zwar zeigt sich auf der obern Stufe eine ent- schiedene Förmlichkeit, bey Audienzen, Tafeln und sonst; bald aber entsteht in des Kaisers Umgebung eine Art von Carnevals- Freyheit, die sich höchst scherzhaft aus- nimmt. Erlustigt sich der Kaiser in Gär- ten und Kiosken, so darf niemand in Stie- feln auf die Teppiche treten worauf der Hof sich befindet. Ein tartarischer Fürst kömmt an, man zieht ihm den Stiefel aus; aber er, nicht geübt auf Einem Beine zu stehen, fängt an zu wanken; der Kaiser selbst tritt nun hinzu und hält ihn, bis die Operation vorüber ist. Gegen Abend steht der Kaiser in einem Hofzirkel in welchem goldene, weingefüllte Schaalen herumkrei- sen; mehrere von mäſsigem Gewicht, einige
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[474[476]/0486]
zur Tafel und Trinkgelagen zugelassen, wo
er vorzüglich von europäischer Verfassung,
Sitte, Religion dem schon wohlunterrich-
teten, wissensbegierigen Fürsten Rechen-
schaft zu geben hat.
Im Orient überhaupt, besonders aber
in Persien, findet sich eine gewisse Naivi-
tät und Unschuld des Betragens durch alle
Stände bis zur Nähe des Throns. Zwar
zeigt sich auf der obern Stufe eine ent-
schiedene Förmlichkeit, bey Audienzen,
Tafeln und sonst; bald aber entsteht in des
Kaisers Umgebung eine Art von Carnevals-
Freyheit, die sich höchst scherzhaft aus-
nimmt. Erlustigt sich der Kaiser in Gär-
ten und Kiosken, so darf niemand in Stie-
feln auf die Teppiche treten worauf der
Hof sich befindet. Ein tartarischer Fürst
kömmt an, man zieht ihm den Stiefel aus;
aber er, nicht geübt auf Einem Beine zu
stehen, fängt an zu wanken; der Kaiser
selbst tritt nun hinzu und hält ihn, bis die
Operation vorüber ist. Gegen Abend steht
der Kaiser in einem Hofzirkel in welchem
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sen; mehrere von mäſsigem Gewicht, einige
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 474[476]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/486>, abgerufen am 22.11.2024.
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