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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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selbst zu verweilen. Und als er mir dar-
auf etwas betrübt vorkam, sprach ich: wa-
rum er sich nicht in die Stadt begebe, wo-
selbst er sein Herz vom Bande der Trau-
rigkeit befreien und fröhlicher leben könn-
te. Er antwortete: da sind zwar viel
schöne und anmuthige Bilder, es ist aber
auch kothig und schlüpfrig in der Stadt,
dass auch wohl Elephanten gleiten und
fallen könnten. Und so würd' auch ich,
bei Anschauung böser Exempel, nicht auf
festem Fusse bleiben. Als wir so gespro-
chen, küssten wir uns darauf Kopf und
Angesicht und nahmen unsern Abschied.
Da wurde denn wahr was der Dichter
sagt: Liebende sind im Scheiden dem
schönen Apfel gleich; Wange die sich an
Wange drückt wird vor Lust und Leben
roth; die andere hingegen ist bleich wie
Kummer und Krankheit."

An einem andern Orte erzählt dersel-
bige Dichter:

"In meinen jungen Jahren pflog ich
mit einem Jüngling meines Gleichen auf-
richtige beständige Freundschaft. Sein
Antlitz war meinen Augen die Himmelsre-

27 *

selbst zu verweilen. Und als er mir dar-
auf etwas betrübt vorkam, sprach ich: wa-
rum er sich nicht in die Stadt begebe, wo-
selbst er sein Herz vom Bande der Trau-
rigkeit befreien und fröhlicher leben könn-
te. Er antwortete: da sind zwar viel
schöne und anmuthige Bilder, es ist aber
auch kothig und schlüpfrig in der Stadt,
daſs auch wohl Elephanten gleiten und
fallen könnten. Und so würd’ auch ich,
bei Anschauung böser Exempel, nicht auf
festem Fuſse bleiben. Als wir so gespro-
chen, küſsten wir uns darauf Kopf und
Angesicht und nahmen unsern Abschied.
Da wurde denn wahr was der Dichter
sagt: Liebende sind im Scheiden dem
schönen Apfel gleich; Wange die sich an
Wange drückt wird vor Lust und Leben
roth; die andere hingegen ist bleich wie
Kummer und Krankheit.“

An einem andern Orte erzählt dersel-
bige Dichter:

„In meinen jungen Jahren pflog ich
mit einem Jüngling meines Gleichen auf-
richtige beständige Freundschaft. Sein
Antlitz war meinen Augen die Himmelsre-

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[417[419]/0429] selbst zu verweilen. Und als er mir dar- auf etwas betrübt vorkam, sprach ich: wa- rum er sich nicht in die Stadt begebe, wo- selbst er sein Herz vom Bande der Trau- rigkeit befreien und fröhlicher leben könn- te. Er antwortete: da sind zwar viel schöne und anmuthige Bilder, es ist aber auch kothig und schlüpfrig in der Stadt, daſs auch wohl Elephanten gleiten und fallen könnten. Und so würd’ auch ich, bei Anschauung böser Exempel, nicht auf festem Fuſse bleiben. Als wir so gespro- chen, küſsten wir uns darauf Kopf und Angesicht und nahmen unsern Abschied. Da wurde denn wahr was der Dichter sagt: Liebende sind im Scheiden dem schönen Apfel gleich; Wange die sich an Wange drückt wird vor Lust und Leben roth; die andere hingegen ist bleich wie Kummer und Krankheit.“ An einem andern Orte erzählt dersel- bige Dichter: „In meinen jungen Jahren pflog ich mit einem Jüngling meines Gleichen auf- richtige beständige Freundschaft. Sein Antlitz war meinen Augen die Himmelsre- 27 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 417[419]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/429>, abgerufen am 17.06.2024.