Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

und von der Seite leidet er. Eine zudring-
liche, oft platte, oft tückische Menge, mit
ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit;
erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruss,
dann aber, zu scharf gereizt und gepresst,
fühlt er Stärke genug sich durch sie durch-
zuschlagen.

Sodann aber werden wir ihm zuge-
stehen, dass er mancherley Anmassungen
dadurch zu mildern weiss, dass er sie, ge-
fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge-
liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja
vernichtet. Herz und Geist des Lesers
wird ihm dieses zu gute schreiben.

Buch der Sprüche, sollte vor an-
dern anschwellen; es ist mit den Büchern
der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe
verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be-
halten den eigenthümlichen Charakter der
ganzen Dichtkunst, dass sie sich sehr oft
auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie-
hen; und es finden sich viele darunter, die
man mit Recht lakonische Parablen nen-
nen könnte. Diese Art bleibt dem West-
länder die schwerste, weil unsere Umge-
bung zu trocken, geregelt und prosaisch

und von der Seite leidet er. Eine zudring-
liche, oft platte, oft tückische Menge, mit
ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit;
erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruſs,
dann aber, zu scharf gereizt und gepreſst,
fühlt er Stärke genug sich durch sie durch-
zuschlagen.

Sodann aber werden wir ihm zuge-
stehen, daſs er mancherley Anmaſsungen
dadurch zu mildern weiſs, daſs er sie, ge-
fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge-
liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja
vernichtet. Herz und Geist des Lesers
wird ihm dieses zu gute schreiben.

Buch der Sprüche, sollte vor an-
dern anschwellen; es ist mit den Büchern
der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe
verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be-
halten den eigenthümlichen Charakter der
ganzen Dichtkunst, daſs sie sich sehr oft
auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie-
hen; und es finden sich viele darunter, die
man mit Recht lakonische Parablen nen-
nen könnte. Diese Art bleibt dem West-
länder die schwerste, weil unsere Umge-
bung zu trocken, geregelt und prosaisch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0420" n="408[410]"/>
und von der Seite leidet er. Eine zudring-<lb/>
liche, oft platte, oft tückische Menge, mit<lb/>
ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit;<lb/>
erst waffnet er sich mit Stolz und Verdru&#x017F;s,<lb/>
dann aber, zu scharf gereizt und gepre&#x017F;st,<lb/>
fühlt er Stärke genug sich durch sie durch-<lb/>
zuschlagen.</p><lb/>
          <p>Sodann aber werden wir ihm zuge-<lb/>
stehen, da&#x017F;s er mancherley Anma&#x017F;sungen<lb/>
dadurch zu mildern wei&#x017F;s, da&#x017F;s er sie, ge-<lb/>
fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge-<lb/>
liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja<lb/>
vernichtet. Herz und Geist des Lesers<lb/>
wird ihm dieses zu gute schreiben.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Buch der Sprüche</hi>, sollte vor an-<lb/>
dern anschwellen; es ist mit den Büchern<lb/>
der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe<lb/>
verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be-<lb/>
halten den eigenthümlichen Charakter der<lb/>
ganzen Dichtkunst, da&#x017F;s sie sich sehr oft<lb/>
auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie-<lb/>
hen; und es finden sich viele darunter, die<lb/>
man mit Recht lakonische Parablen nen-<lb/>
nen könnte. Diese Art bleibt dem West-<lb/>
länder die schwerste, weil unsere Umge-<lb/>
bung zu trocken, geregelt und prosaisch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[408[410]/0420] und von der Seite leidet er. Eine zudring- liche, oft platte, oft tückische Menge, mit ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit; erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruſs, dann aber, zu scharf gereizt und gepreſst, fühlt er Stärke genug sich durch sie durch- zuschlagen. Sodann aber werden wir ihm zuge- stehen, daſs er mancherley Anmaſsungen dadurch zu mildern weiſs, daſs er sie, ge- fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge- liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja vernichtet. Herz und Geist des Lesers wird ihm dieses zu gute schreiben. Buch der Sprüche, sollte vor an- dern anschwellen; es ist mit den Büchern der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be- halten den eigenthümlichen Charakter der ganzen Dichtkunst, daſs sie sich sehr oft auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie- hen; und es finden sich viele darunter, die man mit Recht lakonische Parablen nen- nen könnte. Diese Art bleibt dem West- länder die schwerste, weil unsere Umge- bung zu trocken, geregelt und prosaisch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/420
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 408[410]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/420>, abgerufen am 23.07.2024.