und von der Seite leidet er. Eine zudring- liche, oft platte, oft tückische Menge, mit ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit; erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruss, dann aber, zu scharf gereizt und gepresst, fühlt er Stärke genug sich durch sie durch- zuschlagen.
Sodann aber werden wir ihm zuge- stehen, dass er mancherley Anmassungen dadurch zu mildern weiss, dass er sie, ge- fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge- liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja vernichtet. Herz und Geist des Lesers wird ihm dieses zu gute schreiben.
Buch der Sprüche, sollte vor an- dern anschwellen; es ist mit den Büchern der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be- halten den eigenthümlichen Charakter der ganzen Dichtkunst, dass sie sich sehr oft auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie- hen; und es finden sich viele darunter, die man mit Recht lakonische Parablen nen- nen könnte. Diese Art bleibt dem West- länder die schwerste, weil unsere Umge- bung zu trocken, geregelt und prosaisch
und von der Seite leidet er. Eine zudring- liche, oft platte, oft tückische Menge, mit ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit; erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruſs, dann aber, zu scharf gereizt und gepreſst, fühlt er Stärke genug sich durch sie durch- zuschlagen.
Sodann aber werden wir ihm zuge- stehen, daſs er mancherley Anmaſsungen dadurch zu mildern weiſs, daſs er sie, ge- fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge- liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja vernichtet. Herz und Geist des Lesers wird ihm dieses zu gute schreiben.
Buch der Sprüche, sollte vor an- dern anschwellen; es ist mit den Büchern der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be- halten den eigenthümlichen Charakter der ganzen Dichtkunst, daſs sie sich sehr oft auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie- hen; und es finden sich viele darunter, die man mit Recht lakonische Parablen nen- nen könnte. Diese Art bleibt dem West- länder die schwerste, weil unsere Umge- bung zu trocken, geregelt und prosaisch
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[408[410]/0420]
und von der Seite leidet er. Eine zudring-
liche, oft platte, oft tückische Menge, mit
ihren Chorführern, lähmt seine Thätigkeit;
erst waffnet er sich mit Stolz und Verdruſs,
dann aber, zu scharf gereizt und gepreſst,
fühlt er Stärke genug sich durch sie durch-
zuschlagen.
Sodann aber werden wir ihm zuge-
stehen, daſs er mancherley Anmaſsungen
dadurch zu mildern weiſs, daſs er sie, ge-
fühlvoll und kunstreich, zuletzt auf die Ge-
liebte bezieht, sich vor ihr demüthigt, ja
vernichtet. Herz und Geist des Lesers
wird ihm dieses zu gute schreiben.
Buch der Sprüche, sollte vor an-
dern anschwellen; es ist mit den Büchern
der Betrachtung und des Unmuths ganz nahe
verwandt. Orientalische Sprüche jedoch be-
halten den eigenthümlichen Charakter der
ganzen Dichtkunst, daſs sie sich sehr oft
auf sinnliche, sichtbare Gegenstände bezie-
hen; und es finden sich viele darunter, die
man mit Recht lakonische Parablen nen-
nen könnte. Diese Art bleibt dem West-
länder die schwerste, weil unsere Umge-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 408[410]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/420>, abgerufen am 22.11.2024.
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