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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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1. B. 1. Tit.
quitas suggerit, etsi iure deficiamur. Allein man
untersuche nur den Fall, worauf sich diese Worte ei-
gentlich beziehen, so wird man leicht finden, daß jene
Regel, so wie sie gewöhnlich lautet, in gedachter Stelle
wirklich gar nicht vorgetragen wird. Den besondern
Fall des Gesetzes selbst ergeben die Anfangsworte der
gedachten Stelle ganz genau. Aggerem, qui in fundo
vicini erat, vis aquae deiecit, per quod effectum est,
ut aqua pluvia mihi noceret.
Hieraus siehet man, daß ich
darum berechtiget seyn soll, auf meines Nachbahrs Grund-
stück einen Damm, den die Gewalt des Wassers weg-
gerissen hatte, wieder herzustellen, weil es mir zum of-
fenbahren Nachtheil gereichen würde, wenn die Herstel-
lung unterbliebe; und dieses soll mein Nachbahr um so
mehr zu leiden schuldig seyn, da ihm die Herstellung
des Dammes ganz unschädlich ist. Die Worte prodesse
potest
deuten dahero in natürlicher Verbindung mit den
vorhergehenden darauf, daß wirklicher Nachtheil durch
gewisse Unternehmungen auf fremden Grund und Boden
abgewendet werden soll. Nicht aber werde ich dadurch
berechtiget, bloß zu meinem Vortheil über das Eigenthum
meines Nachbahrn zu disponiren, gesetzt auch, daß er
durch meine Unternehmungen auf dem Seinigen nicht den
mindesten Schaden litte. Und wo bleibt nun der ge-
wöhnliche Satz, quod tibi non nocet, mihi vero
prodest, ad id poteris compelli?
Werden hierdurch
nicht offenbahre Mißbräuche und Eingriffe in die Freiheit
und Rechte des Privateigenthums der Bürger unter dem
Deckmantel der Gesetze beschöniget, welche die Gesetze
selbst doch gar nicht gestatten? Ferner harmonirt auch jene
Regel mit ihrer Quelle darum nicht, weil nach dem In-
halt der obgedachten Gesetzstellen der Eigenthümer in
dem Seinigen nur etwas zulassen soll, nach der Fassung
der daraus gezogenen Regel aber für schuldig erkläret

wird,

1. B. 1. Tit.
quitas ſuggerit, etſi iure deficiamur. Allein man
unterſuche nur den Fall, worauf ſich dieſe Worte ei-
gentlich beziehen, ſo wird man leicht finden, daß jene
Regel, ſo wie ſie gewoͤhnlich lautet, in gedachter Stelle
wirklich gar nicht vorgetragen wird. Den beſondern
Fall des Geſetzes ſelbſt ergeben die Anfangsworte der
gedachten Stelle ganz genau. Aggerem, qui in fundo
vicini erat, vis aquae deiecit, per quod effectum eſt,
ut aqua pluvia mihi noceret.
Hieraus ſiehet man, daß ich
darum berechtiget ſeyn ſoll, auf meines Nachbahrs Grund-
ſtuͤck einen Damm, den die Gewalt des Waſſers weg-
geriſſen hatte, wieder herzuſtellen, weil es mir zum of-
fenbahren Nachtheil gereichen wuͤrde, wenn die Herſtel-
lung unterbliebe; und dieſes ſoll mein Nachbahr um ſo
mehr zu leiden ſchuldig ſeyn, da ihm die Herſtellung
des Dammes ganz unſchaͤdlich iſt. Die Worte prodeſſe
poteſt
deuten dahero in natuͤrlicher Verbindung mit den
vorhergehenden darauf, daß wirklicher Nachtheil durch
gewiſſe Unternehmungen auf fremden Grund und Boden
abgewendet werden ſoll. Nicht aber werde ich dadurch
berechtiget, bloß zu meinem Vortheil uͤber das Eigenthum
meines Nachbahrn zu diſponiren, geſetzt auch, daß er
durch meine Unternehmungen auf dem Seinigen nicht den
mindeſten Schaden litte. Und wo bleibt nun der ge-
woͤhnliche Satz, quod tibi non nocet, mihi vero
prodeſt, ad id poteris compelli?
Werden hierdurch
nicht offenbahre Mißbraͤuche und Eingriffe in die Freiheit
und Rechte des Privateigenthums der Buͤrger unter dem
Deckmantel der Geſetze beſchoͤniget, welche die Geſetze
ſelbſt doch gar nicht geſtatten? Ferner harmonirt auch jene
Regel mit ihrer Quelle darum nicht, weil nach dem In-
halt der obgedachten Geſetzſtellen der Eigenthuͤmer in
dem Seinigen nur etwas zulaſſen ſoll, nach der Faſſung
der daraus gezogenen Regel aber fuͤr ſchuldig erklaͤret

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[42/0062] 1. B. 1. Tit. quitas ſuggerit, etſi iure deficiamur. Allein man unterſuche nur den Fall, worauf ſich dieſe Worte ei- gentlich beziehen, ſo wird man leicht finden, daß jene Regel, ſo wie ſie gewoͤhnlich lautet, in gedachter Stelle wirklich gar nicht vorgetragen wird. Den beſondern Fall des Geſetzes ſelbſt ergeben die Anfangsworte der gedachten Stelle ganz genau. Aggerem, qui in fundo vicini erat, vis aquae deiecit, per quod effectum eſt, ut aqua pluvia mihi noceret. Hieraus ſiehet man, daß ich darum berechtiget ſeyn ſoll, auf meines Nachbahrs Grund- ſtuͤck einen Damm, den die Gewalt des Waſſers weg- geriſſen hatte, wieder herzuſtellen, weil es mir zum of- fenbahren Nachtheil gereichen wuͤrde, wenn die Herſtel- lung unterbliebe; und dieſes ſoll mein Nachbahr um ſo mehr zu leiden ſchuldig ſeyn, da ihm die Herſtellung des Dammes ganz unſchaͤdlich iſt. Die Worte prodeſſe poteſt deuten dahero in natuͤrlicher Verbindung mit den vorhergehenden darauf, daß wirklicher Nachtheil durch gewiſſe Unternehmungen auf fremden Grund und Boden abgewendet werden ſoll. Nicht aber werde ich dadurch berechtiget, bloß zu meinem Vortheil uͤber das Eigenthum meines Nachbahrn zu diſponiren, geſetzt auch, daß er durch meine Unternehmungen auf dem Seinigen nicht den mindeſten Schaden litte. Und wo bleibt nun der ge- woͤhnliche Satz, quod tibi non nocet, mihi vero prodeſt, ad id poteris compelli? Werden hierdurch nicht offenbahre Mißbraͤuche und Eingriffe in die Freiheit und Rechte des Privateigenthums der Buͤrger unter dem Deckmantel der Geſetze beſchoͤniget, welche die Geſetze ſelbſt doch gar nicht geſtatten? Ferner harmonirt auch jene Regel mit ihrer Quelle darum nicht, weil nach dem In- halt der obgedachten Geſetzſtellen der Eigenthuͤmer in dem Seinigen nur etwas zulaſſen ſoll, nach der Faſſung der daraus gezogenen Regel aber fuͤr ſchuldig erklaͤret wird,

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/62>, abgerufen am 21.11.2024.