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Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745.

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ter, auf die Sitten derselben. Ihr werdet euch
betriegen; denn sie schreiben nur, ihren Witz
zu zeigen, und solten sie auch dadurch ihre Tu-
gend in Verdacht setzen. Sie characterisiren
sich nicht, wie sie sind, sondern wie es die Art
der Gedichte erfodert, und sie nehmen das Sy-
stema am liebsten an, welches am meisten Gele-
genheit giebt, witzig zu seyn. Die matemati-
schen Beweise der Wolfianer verschönern kein
Gedicht, und die Weltweisheit des Plato schikkt
sich nicht zum Inhalt scherzhafter Lieder. Ich
empfehle sie den Dichtern, welche die Gottheit
loben.

Anakreon wäre nicht so alt geworden, wenn
die Lehrsätze seiner frohen Muse, nicht auf die
weiseste Art, die Vorschriften seines Lebens ge-
wesen wären. Er war ein ehrwürdiger Greis
von fünf und achzig Jahren, als er mit seinem
Tode aufhörte zu scherzen. Er starb vermut-
lich so, wie die Nachtigall, die mein Geliebter
besungen hat:

Tod, als du den Dichter holtest,
Sprich, scherzt er dir nicht entgegen?

Es soll der Kern einer Rosine sein Lebensende
verursacht haben, und mein Freund hat mir ei-

nen
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ter, auf die Sitten derſelben. Ihr werdet euch
betriegen; denn ſie ſchreiben nur, ihren Witz
zu zeigen, und ſolten ſie auch dadurch ihre Tu-
gend in Verdacht ſetzen. Sie characteriſiren
ſich nicht, wie ſie ſind, ſondern wie es die Art
der Gedichte erfodert, und ſie nehmen das Sy-
ſtema am liebſten an, welches am meiſten Gele-
genheit giebt, witzig zu ſeyn. Die matemati-
ſchen Beweiſe der Wolfianer verſchönern kein
Gedicht, und die Weltweisheit des Plato ſchikkt
ſich nicht zum Inhalt ſcherzhafter Lieder. Ich
empfehle ſie den Dichtern, welche die Gottheit
loben.

Anakreon wäre nicht ſo alt geworden, wenn
die Lehrſätze ſeiner frohen Muſe, nicht auf die
weiſeſte Art, die Vorſchriften ſeines Lebens ge-
weſen wären. Er war ein ehrwürdiger Greis
von fünf und achzig Jahren, als er mit ſeinem
Tode aufhörte zu ſcherzen. Er ſtarb vermut-
lich ſo, wie die Nachtigall, die mein Geliebter
beſungen hat:

Tod, als du den Dichter holteſt,
Sprich, ſcherzt er dir nicht entgegen?

Es ſoll der Kern einer Roſine ſein Lebensende
verurſacht haben, und mein Freund hat mir ei-

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[XXI/0023] ter, auf die Sitten derſelben. Ihr werdet euch betriegen; denn ſie ſchreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und ſolten ſie auch dadurch ihre Tu- gend in Verdacht ſetzen. Sie characteriſiren ſich nicht, wie ſie ſind, ſondern wie es die Art der Gedichte erfodert, und ſie nehmen das Sy- ſtema am liebſten an, welches am meiſten Gele- genheit giebt, witzig zu ſeyn. Die matemati- ſchen Beweiſe der Wolfianer verſchönern kein Gedicht, und die Weltweisheit des Plato ſchikkt ſich nicht zum Inhalt ſcherzhafter Lieder. Ich empfehle ſie den Dichtern, welche die Gottheit loben. Anakreon wäre nicht ſo alt geworden, wenn die Lehrſätze ſeiner frohen Muſe, nicht auf die weiſeſte Art, die Vorſchriften ſeines Lebens ge- weſen wären. Er war ein ehrwürdiger Greis von fünf und achzig Jahren, als er mit ſeinem Tode aufhörte zu ſcherzen. Er ſtarb vermut- lich ſo, wie die Nachtigall, die mein Geliebter beſungen hat: Tod, als du den Dichter holteſt, Sprich, ſcherzt er dir nicht entgegen? Es ſoll der Kern einer Roſine ſein Lebensende verurſacht haben, und mein Freund hat mir ei- nen )( )( 4

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Zitationshilfe: Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745, S. XXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch02_1745/23>, abgerufen am 19.04.2024.