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Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745.

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seinem Prinzen die Mühe gemacht hätte, sie wie-
der anzunehmen! Der Maler, welcher seine
Freundin so unvergleichlich abschilderte, als er
sie beschrieb, hatte vielmehr verdient. (*) Ich
will diese Irrende zurecht weisen. Anakreon
scherzte auf die erzälte Art, über die Weltwei-
sen, welche zwar von der Verachtung der Reich-
tümer predigen, und ihren Schülern eine edle
Sorglosigkeit anpreisen, aber selbst ihre Lehren
niemals so gut ausüben, als Johann, der mun-
tre Seifensieder. (**) Wie sehr muß nicht
dieser Scherz den Polykrates ergötzt haben?
Stellt euch einen Hofmann aus eurer Bekant-
schaft vor, welcher dem Könige drei tausend
Thaler zurükk bringt, weil er nicht davor schla-
fen kan. Ihr müßt verdrießlich seyn, wenn
ihr nicht über ihn lacht.

Könt ihr wol den Lästerern glauben, liebens-
würdige Mitschwestern, welche sagen, daß die-
ser Anakreon, den wir, wenn wir nicht undank-
bar seyn wollen, so hoch schätzen müssen, als
ihn die Frau Dacier geschätzt hat, dem Wein
und der Liebe tadelhaft ergeben gewesen sei?
Schliesset niemals aus den Schriften der Dich-

ter,
(*) S. das Gedicht auf der 58. Seite.
(**) Versuch in poet. Fabeln und Erzählungen Bl. 116.

ſeinem Prinzen die Mühe gemacht hätte, ſie wie-
der anzunehmen! Der Maler, welcher ſeine
Freundin ſo unvergleichlich abſchilderte, als er
ſie beſchrieb, hatte vielmehr verdient. (*) Ich
will dieſe Irrende zurecht weiſen. Anakreon
ſcherzte auf die erzälte Art, über die Weltwei-
ſen, welche zwar von der Verachtung der Reich-
tümer predigen, und ihren Schülern eine edle
Sorgloſigkeit anpreiſen, aber ſelbſt ihre Lehren
niemals ſo gut ausüben, als Johann, der mun-
tre Seifenſieder. (**) Wie ſehr muß nicht
dieſer Scherz den Polykrates ergötzt haben?
Stellt euch einen Hofmann aus eurer Bekant-
ſchaft vor, welcher dem Könige drei tauſend
Thaler zurükk bringt, weil er nicht davor ſchla-
fen kan. Ihr müßt verdrießlich ſeyn, wenn
ihr nicht über ihn lacht.

Könt ihr wol den Läſterern glauben, liebens-
würdige Mitſchweſtern, welche ſagen, daß die-
ſer Anakreon, den wir, wenn wir nicht undank-
bar ſeyn wollen, ſo hoch ſchätzen müſſen, als
ihn die Frau Dacier geſchätzt hat, dem Wein
und der Liebe tadelhaft ergeben geweſen ſei?
Schlieſſet niemals aus den Schriften der Dich-

ter,
(*) S. das Gedicht auf der 58. Seite.
(**) Verſuch in poet. Fabeln und Erzählungen Bl. 116.
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[XX/0022] ſeinem Prinzen die Mühe gemacht hätte, ſie wie- der anzunehmen! Der Maler, welcher ſeine Freundin ſo unvergleichlich abſchilderte, als er ſie beſchrieb, hatte vielmehr verdient. (*) Ich will dieſe Irrende zurecht weiſen. Anakreon ſcherzte auf die erzälte Art, über die Weltwei- ſen, welche zwar von der Verachtung der Reich- tümer predigen, und ihren Schülern eine edle Sorgloſigkeit anpreiſen, aber ſelbſt ihre Lehren niemals ſo gut ausüben, als Johann, der mun- tre Seifenſieder. (**) Wie ſehr muß nicht dieſer Scherz den Polykrates ergötzt haben? Stellt euch einen Hofmann aus eurer Bekant- ſchaft vor, welcher dem Könige drei tauſend Thaler zurükk bringt, weil er nicht davor ſchla- fen kan. Ihr müßt verdrießlich ſeyn, wenn ihr nicht über ihn lacht. Könt ihr wol den Läſterern glauben, liebens- würdige Mitſchweſtern, welche ſagen, daß die- ſer Anakreon, den wir, wenn wir nicht undank- bar ſeyn wollen, ſo hoch ſchätzen müſſen, als ihn die Frau Dacier geſchätzt hat, dem Wein und der Liebe tadelhaft ergeben geweſen ſei? Schlieſſet niemals aus den Schriften der Dich- ter, (*) S. das Gedicht auf der 58. Seite. (**) Verſuch in poet. Fabeln und Erzählungen Bl. 116.

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Zitationshilfe: Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch02_1745/22>, abgerufen am 19.04.2024.