Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756.

Bild:
<< vorherige Seite

An einem schönen Morgen sass das Mädchen im
Hain, mit Blumen bekränzt sass es da und sang;
Sey gegrüsst liebliche Sonne hinter dem Berg her-
vor, schon beglänzen deine Stralen der Bäume
Wipfel auf den hohen Hügeln, und der frohen
Lerche hoch schwebendes Gefieder. Dir singen
die Vögel des Hains entgegen, und - - Izt
schwieg sie, und sah aufmerksam umher, welche
liebliche Stimme mischet sich in meinen Gesang?
So rief sie erstaunt, sie begleitet jeden Ton mei-
nes Gesanges! Wo bist du? - - Warum schwei-
gest du Lied? Singe, liebliche Stimme! Bist du
ein gefiederter Bewohner dieses Hains, o so
schwinge die Flügel hieher auf diesen Fichten-
baum, dass ich dich sehe und deinen Gesang
höre! so sprach sie, und sah weit in den Wipfeln
umher; Bist du schüchtern weggeflogen? Oder - -
diese Stimme hab ich noch nie im Hain gehört,
wenn ich mich betrogen hätte? Mich täuscht
doch kein Traum? Ich will noch ein Lied singen.

Seyd

An einem ſchönen Morgen ſaſs das Mädchen im
Hain, mit Blumen bekränzt ſaſs es da und ſang;
Sey gegrüſst liebliche Sonne hinter dem Berg her-
vor, ſchon beglänzen deine Stralen der Bäume
Wipfel auf den hohen Hügeln, und der frohen
Lerche hoch ſchwebendes Gefieder. Dir ſingen
die Vögel des Hains entgegen, und ‒ ‒ Izt
ſchwieg ſie, und ſah aufmerkſam umher, welche
liebliche Stimme miſchet ſich in meinen Geſang?
So rief ſie erſtaunt, ſie begleitet jeden Ton mei-
nes Geſanges! Wo biſt du? ‒ ‒ Warum ſchwei-
geſt du Lied? Singe, liebliche Stimme! Biſt du
ein gefiederter Bewohner dieſes Hains, o ſo
ſchwinge die Flügel hieher auf dieſen Fichten-
baum, daſs ich dich ſehe und deinen Geſang
höre! ſo ſprach ſie, und ſah weit in den Wipfeln
umher; Biſt du ſchüchtern weggeflogen? Oder ‒ ‒
dieſe Stimme hab ich noch nie im Hain gehört,
wenn ich mich betrogen hätte? Mich täuſcht
doch kein Traum? Ich will noch ein Lied ſingen.

Seyd
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0101" n="96"/>
        <p>An einem &#x017F;chönen Morgen &#x017F;a&#x017F;s das Mädchen im<lb/>
Hain, mit Blumen bekränzt &#x017F;a&#x017F;s es da und &#x017F;ang;<lb/>
Sey gegrü&#x017F;st liebliche Sonne hinter dem Berg her-<lb/>
vor, &#x017F;chon beglänzen deine Stralen der Bäume<lb/>
Wipfel auf den hohen Hügeln, und der frohen<lb/>
Lerche hoch &#x017F;chwebendes Gefieder. Dir &#x017F;ingen<lb/>
die Vögel des Hains entgegen, und &#x2012; &#x2012; Izt<lb/>
&#x017F;chwieg &#x017F;ie, und &#x017F;ah aufmerk&#x017F;am umher, welche<lb/>
liebliche Stimme mi&#x017F;chet &#x017F;ich in meinen Ge&#x017F;ang?<lb/>
So rief &#x017F;ie er&#x017F;taunt, &#x017F;ie begleitet jeden Ton mei-<lb/>
nes Ge&#x017F;anges! Wo bi&#x017F;t du? &#x2012; &#x2012; Warum &#x017F;chwei-<lb/>
ge&#x017F;t du Lied? Singe, liebliche Stimme! Bi&#x017F;t du<lb/>
ein gefiederter Bewohner die&#x017F;es Hains, o &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chwinge die Flügel hieher auf die&#x017F;en Fichten-<lb/>
baum, da&#x017F;s ich dich &#x017F;ehe und deinen Ge&#x017F;ang<lb/>
höre! &#x017F;o &#x017F;prach &#x017F;ie, und &#x017F;ah weit in den Wipfeln<lb/>
umher; Bi&#x017F;t du &#x017F;chüchtern weggeflogen? Oder &#x2012; &#x2012;<lb/>
die&#x017F;e Stimme hab ich noch nie im Hain gehört,<lb/>
wenn ich mich betrogen hätte? Mich täu&#x017F;cht<lb/>
doch kein Traum? Ich will noch ein Lied &#x017F;ingen.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Seyd</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0101] An einem ſchönen Morgen ſaſs das Mädchen im Hain, mit Blumen bekränzt ſaſs es da und ſang; Sey gegrüſst liebliche Sonne hinter dem Berg her- vor, ſchon beglänzen deine Stralen der Bäume Wipfel auf den hohen Hügeln, und der frohen Lerche hoch ſchwebendes Gefieder. Dir ſingen die Vögel des Hains entgegen, und ‒ ‒ Izt ſchwieg ſie, und ſah aufmerkſam umher, welche liebliche Stimme miſchet ſich in meinen Geſang? So rief ſie erſtaunt, ſie begleitet jeden Ton mei- nes Geſanges! Wo biſt du? ‒ ‒ Warum ſchwei- geſt du Lied? Singe, liebliche Stimme! Biſt du ein gefiederter Bewohner dieſes Hains, o ſo ſchwinge die Flügel hieher auf dieſen Fichten- baum, daſs ich dich ſehe und deinen Geſang höre! ſo ſprach ſie, und ſah weit in den Wipfeln umher; Biſt du ſchüchtern weggeflogen? Oder ‒ ‒ dieſe Stimme hab ich noch nie im Hain gehört, wenn ich mich betrogen hätte? Mich täuſcht doch kein Traum? Ich will noch ein Lied ſingen. Seyd

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/101
Zitationshilfe: [Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/101>, abgerufen am 09.05.2024.