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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768.

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Ugolino,
Anselmo. (indem sich die Musik entfernt)
Wonnegesang! Wonnegesang!
Jst am Ziel denn nicht Vollendung? (*)
Nicht im Thale des Tods Wonnegesang?
Ugolino. Jch hebe meine Augen zu Gott auf! Meine zer-
rißne Seele ist geheilt. Mit diesem Vermächtniß -- mit diesem
Vermächtniß -- Himmel und Erde! eines Verhungernden!
laugsam, langsam, unter jeder Gewissensangst! Was? Tage
und Nächte lang angestarrt von jenen weitoffnen Augen deiner Er-
schlagnen und auch Verhungerten? was? Nein! nein! nein!
bey allen Schanern des Abgrundes! nein! Jch will es nicht aus-
halten! beym allmächtigen Gott! ich will nicht! (er hebt sich
gählings, wie um gegen die Mauer zu rennen)
Du im Himmel!
(fährt aber plötzlich zurück) Ha! (mit zum Himmel gehobnen Augen)
Mein Herr und mein Richter! Ha, Ugolino! noch lebst du!
noch -- lebst du! klein zwar nun, und nun dir verächtlich, und
nun unwürdig des Prüfungstodes! Aber ich lebe! Schwur ichs?
bey dem allmächtigen Gott schwur ichs? O Schwur, wie ihn nie
die Verzweiflung geschworen hat! Drey Tage dieser Dämmrung,
Ugolino! drey Nächte dieser Dämmrung! Diese Felslast auf
meinem Herzen? sie nicht abwälzen? Ja, es ist schwer! Oder
Jahrtausende jenseits in der Finsterniß der Finsternisse? Jahr-
tausende lang an allen Wänden aller Felsen meine Stirne zer-
schmetteru? Wehe mir! in jeder schamvollen Erinnerung meiner
unsterblichen Seele sterben? und wieder leben? und wieder ster-
ben? Ach! es ist graunvoll! Jahrtausende lang in der schwar-
zen Flamme des Reinigers? und nene Jahrtausende lang? und
vielleicht eine Ewigkeit lang, hinzitternd vor dem furchtbaren
Antlitze des Rächers? Und wie würde der mitverdammte Pisa-
ner die Zähne blöcken! Wie würde der Mitverdammte die Zähne
blöcken!
(*) Aus einer Strophe von Klopftock.
Ugolino,
Anſelmo. (indem ſich die Muſik entfernt)
Wonnegeſang! Wonnegeſang!
Jſt am Ziel denn nicht Vollendung? (*)
Nicht im Thale des Tods Wonnegeſang?
Ugolino. Jch hebe meine Augen zu Gott auf! Meine zer-
rißne Seele iſt geheilt. Mit dieſem Vermaͤchtniß — mit dieſem
Vermaͤchtniß — Himmel und Erde! eines Verhungernden!
laugſam, langſam, unter jeder Gewiſſensangſt! Was? Tage
und Naͤchte lang angeſtarrt von jenen weitoffnen Augen deiner Er-
ſchlagnen und auch Verhungerten? was? Nein! nein! nein!
bey allen Schanern des Abgrundes! nein! Jch will es nicht aus-
halten! beym allmaͤchtigen Gott! ich will nicht! (er hebt ſich
gaͤhlings, wie um gegen die Mauer zu rennen)
Du im Himmel!
(faͤhrt aber ploͤtzlich zuruͤck) Ha! (mit zum Himmel gehobnen Augen)
Mein Herr und mein Richter! Ha, Ugolino! noch lebſt du!
noch — lebſt du! klein zwar nun, und nun dir veraͤchtlich, und
nun unwuͤrdig des Pruͤfungstodes! Aber ich lebe! Schwur ichs?
bey dem allmaͤchtigen Gott ſchwur ichs? O Schwur, wie ihn nie
die Verzweiflung geſchworen hat! Drey Tage dieſer Daͤmmrung,
Ugolino! drey Naͤchte dieſer Daͤmmrung! Dieſe Felslaſt auf
meinem Herzen? ſie nicht abwaͤlzen? Ja, es iſt ſchwer! Oder
Jahrtauſende jenſeits in der Finſterniß der Finſterniſſe? Jahr-
tauſende lang an allen Waͤnden aller Felſen meine Stirne zer-
ſchmetteru? Wehe mir! in jeder ſchamvollen Erinnerung meiner
unſterblichen Seele ſterben? und wieder leben? und wieder ſter-
ben? Ach! es iſt graunvoll! Jahrtauſende lang in der ſchwar-
zen Flamme des Reinigers? und nene Jahrtauſende lang? und
vielleicht eine Ewigkeit lang, hinzitternd vor dem furchtbaren
Antlitze des Raͤchers? Und wie wuͤrde der mitverdammte Piſa-
ner die Zaͤhne bloͤcken! Wie wuͤrde der Mitverdammte die Zaͤhne
bloͤcken!
(*) Aus einer Strophe von Klopftock.
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[66/0072] Ugolino, Anſelmo. (indem ſich die Muſik entfernt) Wonnegeſang! Wonnegeſang! Jſt am Ziel denn nicht Vollendung? (*) Nicht im Thale des Tods Wonnegeſang? Ugolino. Jch hebe meine Augen zu Gott auf! Meine zer- rißne Seele iſt geheilt. Mit dieſem Vermaͤchtniß — mit dieſem Vermaͤchtniß — Himmel und Erde! eines Verhungernden! laugſam, langſam, unter jeder Gewiſſensangſt! Was? Tage und Naͤchte lang angeſtarrt von jenen weitoffnen Augen deiner Er- ſchlagnen und auch Verhungerten? was? Nein! nein! nein! bey allen Schanern des Abgrundes! nein! Jch will es nicht aus- halten! beym allmaͤchtigen Gott! ich will nicht! (er hebt ſich gaͤhlings, wie um gegen die Mauer zu rennen) Du im Himmel! (faͤhrt aber ploͤtzlich zuruͤck) Ha! (mit zum Himmel gehobnen Augen) Mein Herr und mein Richter! Ha, Ugolino! noch lebſt du! noch — lebſt du! klein zwar nun, und nun dir veraͤchtlich, und nun unwuͤrdig des Pruͤfungstodes! Aber ich lebe! Schwur ichs? bey dem allmaͤchtigen Gott ſchwur ichs? O Schwur, wie ihn nie die Verzweiflung geſchworen hat! Drey Tage dieſer Daͤmmrung, Ugolino! drey Naͤchte dieſer Daͤmmrung! Dieſe Felslaſt auf meinem Herzen? ſie nicht abwaͤlzen? Ja, es iſt ſchwer! Oder Jahrtauſende jenſeits in der Finſterniß der Finſterniſſe? Jahr- tauſende lang an allen Waͤnden aller Felſen meine Stirne zer- ſchmetteru? Wehe mir! in jeder ſchamvollen Erinnerung meiner unſterblichen Seele ſterben? und wieder leben? und wieder ſter- ben? Ach! es iſt graunvoll! Jahrtauſende lang in der ſchwar- zen Flamme des Reinigers? und nene Jahrtauſende lang? und vielleicht eine Ewigkeit lang, hinzitternd vor dem furchtbaren Antlitze des Raͤchers? Und wie wuͤrde der mitverdammte Piſa- ner die Zaͤhne bloͤcken! Wie wuͤrde der Mitverdammte die Zaͤhne bloͤcken! (*) Aus einer Strophe von Klopftock.

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Zitationshilfe: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm: Ugolino. Hamburg u. a., 1768, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstenberg_ugolino_1768/72>, abgerufen am 29.03.2024.