Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.Folgendes erwägt. Williams sagt, wie wir schon vorhin sahen, dass ein niederer Mann durch Kindermord sich dem Stand seiner vornehmeren Frau angleichen kann; was Meinicke, wohl nur durch einen Irrthum seinerseits, für einen Irrthum hielt. Denn aller Rang vererbte durch die Mutter; der Adel war ferner eine mit Seele begabte, göttliche Klasse, im Gegensatz zu dem unbeseelten, irdischen Volk. Kinderseelen nun, welche nach Mörenhout für besonders heilig gehalten und zu denen als Vermittlern zwischen Göttern und Menschen besonders gebetet wurde, konnten, wenn für den unbeseelten Mann geopfert, ihm, sei es durch direkten Uebergang in ihn, oder sei es durch Vermittlung bei den Göttern, zu einer Seele verhelfen, wodurch er zu höherem Rang emporstiege. Die Areois sind eine religiöse Gesellschaft; religiöse Scheu zeigte sich in der Art, wie man (wenigstens in Tahiti) die Kinder umbrachte; man hat sie also in vielen Fällen vielleicht nur getödtet, um Schutzgeister zu haben oder sie als Opfer fürs eigene Leben -- solche Opfer werden wir gleich noch mehr sehen -- den Göttern darzubringen. Dieselbe Bedeutung hat wohl der Kindermord in Mikro- und Melanesien gehabt, wie einzelne Spuren noch andeuten, wenn sich auch Zwingendes nicht dafür anführen lässt als eben ihre Verwandtschaft mit den Polynesiern. Wenn aber Meinicke sagt, die Sitte müsse überall geherrscht haben und sei, wo wir sie nicht erwähnt finden, wie in Tonga, nur übersehen, so kann man das nicht zugeben; der so feinen und scharfen Beobachtung Mariners hätte sich ein so auffallender Gebrauch nicht entziehen können und er führt 2, 18-19 einen Fall der Art ausdrücklich als etwas Ausserordentliches an. Aber möglich ist es, ja wahrscheinlich, dass die Sitte auch in Tonga ursprünglich geherrscht hat, nur während sie sich im übrigen Polynesien ausbreitete, so erlag sie schon sehr früh und lange vor der Entdeckung dem besseren Sinn der Tonganer, wie sie auch andere ähnliche Sitten aufgaben, z. B. die Ermordung der Weiber beim Tode der Männer, von der Mariner als von einer früher gebräuchlichen hörte (1, 342), die aber zu seiner Zeit schon ausser Gebrauch gekommen war. Da wir nun Gründe haben, bei den Polynesiern diesen Gebrauch für einen ursprünglich religiösen zu halten, der freilich in späterer Zeit aus ganz anderen Motiven, aus Faulheit, Eitelkeit, Lieblosigkeit, Standeshochmuth u. s. w. sich unendlich verbreitete und das ganze Leben der Nation in der neuen Gestalt anfrass; so möchte auch die ziemlich weite Verbreitung der Sitte, wie wir sie im eigentlichen Malaisien von Luzon bis nach Madagaskar hin nachwiesen, auf demselben Princip beruhen. Wie es sich in Südamerika hiermit verhält, lassen wir, da es uns an älteren Daten fehlt, unerörtert; doch hat hier vielleicht eine ähnliche Grundanschauung geherrscht, als wir sie für Polynesien annahmen. Denn in Mexiko wenigstens Folgendes erwägt. Williams sagt, wie wir schon vorhin sahen, dass ein niederer Mann durch Kindermord sich dem Stand seiner vornehmeren Frau angleichen kann; was Meinicke, wohl nur durch einen Irrthum seinerseits, für einen Irrthum hielt. Denn aller Rang vererbte durch die Mutter; der Adel war ferner eine mit Seele begabte, göttliche Klasse, im Gegensatz zu dem unbeseelten, irdischen Volk. Kinderseelen nun, welche nach Mörenhout für besonders heilig gehalten und zu denen als Vermittlern zwischen Göttern und Menschen besonders gebetet wurde, konnten, wenn für den unbeseelten Mann geopfert, ihm, sei es durch direkten Uebergang in ihn, oder sei es durch Vermittlung bei den Göttern, zu einer Seele verhelfen, wodurch er zu höherem Rang emporstiege. Die Areois sind eine religiöse Gesellschaft; religiöse Scheu zeigte sich in der Art, wie man (wenigstens in Tahiti) die Kinder umbrachte; man hat sie also in vielen Fällen vielleicht nur getödtet, um Schutzgeister zu haben oder sie als Opfer fürs eigene Leben — solche Opfer werden wir gleich noch mehr sehen — den Göttern darzubringen. Dieselbe Bedeutung hat wohl der Kindermord in Mikro- und Melanesien gehabt, wie einzelne Spuren noch andeuten, wenn sich auch Zwingendes nicht dafür anführen lässt als eben ihre Verwandtschaft mit den Polynesiern. Wenn aber Meinicke sagt, die Sitte müsse überall geherrscht haben und sei, wo wir sie nicht erwähnt finden, wie in Tonga, nur übersehen, so kann man das nicht zugeben; der so feinen und scharfen Beobachtung Mariners hätte sich ein so auffallender Gebrauch nicht entziehen können und er führt 2, 18-19 einen Fall der Art ausdrücklich als etwas Ausserordentliches an. Aber möglich ist es, ja wahrscheinlich, dass die Sitte auch in Tonga ursprünglich geherrscht hat, nur während sie sich im übrigen Polynesien ausbreitete, so erlag sie schon sehr früh und lange vor der Entdeckung dem besseren Sinn der Tonganer, wie sie auch andere ähnliche Sitten aufgaben, z. B. die Ermordung der Weiber beim Tode der Männer, von der Mariner als von einer früher gebräuchlichen hörte (1, 342), die aber zu seiner Zeit schon ausser Gebrauch gekommen war. Da wir nun Gründe haben, bei den Polynesiern diesen Gebrauch für einen ursprünglich religiösen zu halten, der freilich in späterer Zeit aus ganz anderen Motiven, aus Faulheit, Eitelkeit, Lieblosigkeit, Standeshochmuth u. s. w. sich unendlich verbreitete und das ganze Leben der Nation in der neuen Gestalt anfrass; so möchte auch die ziemlich weite Verbreitung der Sitte, wie wir sie im eigentlichen Malaisien von Luzon bis nach Madagaskar hin nachwiesen, auf demselben Princip beruhen. Wie es sich in Südamerika hiermit verhält, lassen wir, da es uns an älteren Daten fehlt, unerörtert; doch hat hier vielleicht eine ähnliche Grundanschauung geherrscht, als wir sie für Polynesien annahmen. Denn in Mexiko wenigstens <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0072"/> Folgendes erwägt. Williams sagt, wie wir schon vorhin sahen, dass ein niederer Mann durch Kindermord sich dem Stand seiner vornehmeren Frau angleichen kann; was Meinicke, wohl nur durch einen Irrthum seinerseits, für einen Irrthum hielt. Denn aller Rang vererbte durch die Mutter; der Adel war ferner eine mit Seele begabte, göttliche Klasse, im Gegensatz zu dem unbeseelten, irdischen Volk. Kinderseelen nun, welche nach Mörenhout für besonders heilig gehalten und zu denen als Vermittlern zwischen Göttern und Menschen besonders gebetet wurde, konnten, wenn für den unbeseelten Mann geopfert, ihm, sei es durch direkten Uebergang in ihn, oder sei es durch Vermittlung bei den Göttern, zu einer Seele verhelfen, wodurch er zu höherem Rang emporstiege. Die Areois sind eine religiöse Gesellschaft; religiöse Scheu zeigte sich in der Art, wie man (wenigstens in Tahiti) die Kinder umbrachte; man hat sie also in vielen Fällen vielleicht nur getödtet, um Schutzgeister zu haben oder sie als Opfer fürs eigene Leben — solche Opfer werden wir gleich noch mehr sehen — den Göttern darzubringen. Dieselbe Bedeutung hat wohl der Kindermord in Mikro- und Melanesien gehabt, wie einzelne Spuren noch andeuten, wenn sich auch Zwingendes nicht dafür anführen lässt als eben ihre Verwandtschaft mit den Polynesiern. Wenn aber Meinicke sagt, die Sitte müsse überall geherrscht haben und sei, wo wir sie nicht erwähnt finden, wie in Tonga, nur übersehen, so kann man das nicht zugeben; der so feinen und scharfen Beobachtung Mariners hätte sich ein so auffallender Gebrauch nicht entziehen können und er führt 2, 18-19 einen Fall der Art ausdrücklich als etwas Ausserordentliches an. Aber möglich ist es, ja wahrscheinlich, dass die Sitte auch in Tonga ursprünglich geherrscht hat, nur während sie sich im übrigen Polynesien ausbreitete, so erlag sie schon sehr früh und lange vor der Entdeckung dem besseren Sinn der Tonganer, wie sie auch andere ähnliche Sitten aufgaben, z. B. die Ermordung der Weiber beim Tode der Männer, von der Mariner als von einer früher gebräuchlichen hörte (1, 342), die aber zu seiner Zeit schon ausser Gebrauch gekommen war.</p> <p>Da wir nun Gründe haben, bei den Polynesiern diesen Gebrauch für einen ursprünglich religiösen zu halten, der freilich in späterer Zeit aus ganz anderen Motiven, aus Faulheit, Eitelkeit, Lieblosigkeit, Standeshochmuth u. s. w. sich unendlich verbreitete und das ganze Leben der Nation in der neuen Gestalt anfrass; so möchte auch die ziemlich weite Verbreitung der Sitte, wie wir sie im eigentlichen Malaisien von Luzon bis nach Madagaskar hin nachwiesen, auf demselben Princip beruhen. Wie es sich in Südamerika hiermit verhält, lassen wir, da es uns an älteren Daten fehlt, unerörtert; doch hat hier vielleicht eine ähnliche Grundanschauung geherrscht, als wir sie für Polynesien annahmen. Denn in Mexiko wenigstens </p> </div> </body> </text> </TEI> [0072]
Folgendes erwägt. Williams sagt, wie wir schon vorhin sahen, dass ein niederer Mann durch Kindermord sich dem Stand seiner vornehmeren Frau angleichen kann; was Meinicke, wohl nur durch einen Irrthum seinerseits, für einen Irrthum hielt. Denn aller Rang vererbte durch die Mutter; der Adel war ferner eine mit Seele begabte, göttliche Klasse, im Gegensatz zu dem unbeseelten, irdischen Volk. Kinderseelen nun, welche nach Mörenhout für besonders heilig gehalten und zu denen als Vermittlern zwischen Göttern und Menschen besonders gebetet wurde, konnten, wenn für den unbeseelten Mann geopfert, ihm, sei es durch direkten Uebergang in ihn, oder sei es durch Vermittlung bei den Göttern, zu einer Seele verhelfen, wodurch er zu höherem Rang emporstiege. Die Areois sind eine religiöse Gesellschaft; religiöse Scheu zeigte sich in der Art, wie man (wenigstens in Tahiti) die Kinder umbrachte; man hat sie also in vielen Fällen vielleicht nur getödtet, um Schutzgeister zu haben oder sie als Opfer fürs eigene Leben — solche Opfer werden wir gleich noch mehr sehen — den Göttern darzubringen. Dieselbe Bedeutung hat wohl der Kindermord in Mikro- und Melanesien gehabt, wie einzelne Spuren noch andeuten, wenn sich auch Zwingendes nicht dafür anführen lässt als eben ihre Verwandtschaft mit den Polynesiern. Wenn aber Meinicke sagt, die Sitte müsse überall geherrscht haben und sei, wo wir sie nicht erwähnt finden, wie in Tonga, nur übersehen, so kann man das nicht zugeben; der so feinen und scharfen Beobachtung Mariners hätte sich ein so auffallender Gebrauch nicht entziehen können und er führt 2, 18-19 einen Fall der Art ausdrücklich als etwas Ausserordentliches an. Aber möglich ist es, ja wahrscheinlich, dass die Sitte auch in Tonga ursprünglich geherrscht hat, nur während sie sich im übrigen Polynesien ausbreitete, so erlag sie schon sehr früh und lange vor der Entdeckung dem besseren Sinn der Tonganer, wie sie auch andere ähnliche Sitten aufgaben, z. B. die Ermordung der Weiber beim Tode der Männer, von der Mariner als von einer früher gebräuchlichen hörte (1, 342), die aber zu seiner Zeit schon ausser Gebrauch gekommen war.
Da wir nun Gründe haben, bei den Polynesiern diesen Gebrauch für einen ursprünglich religiösen zu halten, der freilich in späterer Zeit aus ganz anderen Motiven, aus Faulheit, Eitelkeit, Lieblosigkeit, Standeshochmuth u. s. w. sich unendlich verbreitete und das ganze Leben der Nation in der neuen Gestalt anfrass; so möchte auch die ziemlich weite Verbreitung der Sitte, wie wir sie im eigentlichen Malaisien von Luzon bis nach Madagaskar hin nachwiesen, auf demselben Princip beruhen. Wie es sich in Südamerika hiermit verhält, lassen wir, da es uns an älteren Daten fehlt, unerörtert; doch hat hier vielleicht eine ähnliche Grundanschauung geherrscht, als wir sie für Polynesien annahmen. Denn in Mexiko wenigstens
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML.
(2012-11-06T13:54:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-11-06T13:54:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |