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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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nicke a 2, 208). Ja es soll sogar vorkommen, dass Eltern ihre neugeborenen Kinder selbst auffressen (Stanbridge, transaction of the ethnol. Society X. S. 1, 289; Australia felix 129; Angas 1, 73). Auf Vandiemensland dagegen herrschte der Kindermord nicht (Bibra 16).

Wohl aber in Melanesien, und so auf Vate (Gill 67), wo man neugeborene Kinder lebendig begrub und nur zwei bis drei aufzog (Turner 394), und ebenso war es auf Erromango (Turner 491) und in grösster Ausdehnung auf den Inseln in der nächsten Nähe von Neuguinea (Reina in Zeitschr. 4, 359). Auf den Fidschiinseln war der Kindermord gleichfalls nicht selten, wie Williams und Calvert (1, 180) berichten und das Gemälde, das sie entwerfen, ist düster genug: künstliche Fehlgeburten, Tödtung der Kinder, namentlich der Mädchen, gleich nach der Geburt, ist sehr häufig, aus Laune, aus Faulheit, aus Eifersucht und Rache; wie in Polynesien gab es auch hier in jedem Dorf Leute, welche Fehlgeburten herbeizuführen verstehen. Hale (66) schreibt den Fidschis dieselbe Sitte zu, welche wir bei den Tupis fanden und welche ja auch unter den Indogermanen eine so weit verbreitete war, dass alle Kinder, welche der Vater oder Priester nicht unmittelbar nach der Geburt vom Boden aufnimmt, als "ausgestossene" getödtet werden.

Aber schlimmer noch und wahrhaft in entsetzlicher Ausdehnung tritt der Kindermord auf im übrigen Ozeanien. Wir beginnen mit Mikronesien. Während allerdings die Carolinen frei von diesem Verbrechen waren (Chamisso 137), durfte auf den Ratakinseln keine Mutter mehr als drei Kinder grossziehen: alle übrigen wurden umgebracht (Chamisso 119); und ebenso ist, um übergrosse Bevölkerung zu vermeiden, künstlicher Abortus bei den Gilbertinsulanern nach Gulick (410), allerdings gegen Hales Ansicht, häufig. Von der Kingswillgruppe, aber mit Ausnahme von Makin, sagt auch Hale dasselbe (96). Nach alledem, was wir von den marianischen Uritaos wissen, scheinen auch sie, obwohl bestimmte Daten darüber fehlen, die Kinder, welche ihnen bei ihren Ausschweifungen und namentlich die, welche von niederen Weibern geboren worden, getödtet zu haben.

Im eigentlichen Polynesien nun bleiben auf Tikopia nur die ältesten beiden Söhne am Leben, um die Insel nicht zu übervölkern, so wie alle Mädchen, daher die Insel weit mehr Weiber als Männer hat (Dillon 2, 134). Auf Tonga kam der Kindermord, dessen Motiv dann meist Trägheit oder Bequemlichkeit ist, nur vereinzelt vor (Mariner 2, 18-19), auf Samoa aber gar nicht (Wilkes 2, 80, Williams 560) und ebenso wenig, um das hier gleich anzuschliessen, auf den Herveyinseln (Williams 560).

Allein auf Tahiti war das Verbrechen so im Schwunge, dass Ellis (1, 249) annimmt, es habe sich in der Ausdehnung, wie er es

nicke a 2, 208). Ja es soll sogar vorkommen, dass Eltern ihre neugeborenen Kinder selbst auffressen (Stanbridge, transaction of the ethnol. Society X. S. 1, 289; Australia felix 129; Angas 1, 73). Auf Vandiemensland dagegen herrschte der Kindermord nicht (Bibra 16).

Wohl aber in Melanesien, und so auf Vate (Gill 67), wo man neugeborene Kinder lebendig begrub und nur zwei bis drei aufzog (Turner 394), und ebenso war es auf Erromango (Turner 491) und in grösster Ausdehnung auf den Inseln in der nächsten Nähe von Neuguinea (Reina in Zeitschr. 4, 359). Auf den Fidschiinseln war der Kindermord gleichfalls nicht selten, wie Williams und Calvert (1, 180) berichten und das Gemälde, das sie entwerfen, ist düster genug: künstliche Fehlgeburten, Tödtung der Kinder, namentlich der Mädchen, gleich nach der Geburt, ist sehr häufig, aus Laune, aus Faulheit, aus Eifersucht und Rache; wie in Polynesien gab es auch hier in jedem Dorf Leute, welche Fehlgeburten herbeizuführen verstehen. Hale (66) schreibt den Fidschis dieselbe Sitte zu, welche wir bei den Tupis fanden und welche ja auch unter den Indogermanen eine so weit verbreitete war, dass alle Kinder, welche der Vater oder Priester nicht unmittelbar nach der Geburt vom Boden aufnimmt, als »ausgestossene« getödtet werden.

Aber schlimmer noch und wahrhaft in entsetzlicher Ausdehnung tritt der Kindermord auf im übrigen Ozeanien. Wir beginnen mit Mikronesien. Während allerdings die Carolinen frei von diesem Verbrechen waren (Chamisso 137), durfte auf den Ratakinseln keine Mutter mehr als drei Kinder grossziehen: alle übrigen wurden umgebracht (Chamisso 119); und ebenso ist, um übergrosse Bevölkerung zu vermeiden, künstlicher Abortus bei den Gilbertinsulanern nach Gulick (410), allerdings gegen Hales Ansicht, häufig. Von der Kingswillgruppe, aber mit Ausnahme von Makin, sagt auch Hale dasselbe (96). Nach alledem, was wir von den marianischen Uritaos wissen, scheinen auch sie, obwohl bestimmte Daten darüber fehlen, die Kinder, welche ihnen bei ihren Ausschweifungen und namentlich die, welche von niederen Weibern geboren worden, getödtet zu haben.

Im eigentlichen Polynesien nun bleiben auf Tikopia nur die ältesten beiden Söhne am Leben, um die Insel nicht zu übervölkern, so wie alle Mädchen, daher die Insel weit mehr Weiber als Männer hat (Dillon 2, 134). Auf Tonga kam der Kindermord, dessen Motiv dann meist Trägheit oder Bequemlichkeit ist, nur vereinzelt vor (Mariner 2, 18-19), auf Samoa aber gar nicht (Wilkes 2, 80, Williams 560) und ebenso wenig, um das hier gleich anzuschliessen, auf den Herveyinseln (Williams 560).

Allein auf Tahiti war das Verbrechen so im Schwunge, dass Ellis (1, 249) annimmt, es habe sich in der Ausdehnung, wie er es

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 sogar vorkommen, dass Eltern ihre neugeborenen Kinder selbst
 auffressen (Stanbridge, transaction of the ethnol. Society X. S. 1,
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 neugeborene Kinder lebendig begrub und nur zwei bis drei aufzog
 (Turner 394), und ebenso war es auf Erromango (Turner 491) und in
 grösster Ausdehnung auf den Inseln in der nächsten
 Nähe von Neuguinea (Reina in Zeitschr. 4, 359). Auf den
 Fidschiinseln war der Kindermord gleichfalls nicht selten, wie
 Williams und Calvert (1, 180) berichten und das Gemälde, das
 sie entwerfen, ist düster genug: künstliche Fehlgeburten,
 Tödtung der Kinder, namentlich der Mädchen, gleich nach
 der Geburt, ist sehr häufig, aus Laune, aus Faulheit, aus
 Eifersucht und Rache; wie in Polynesien gab es auch hier in jedem
 Dorf Leute, welche Fehlgeburten herbeizuführen verstehen. Hale
 (66) schreibt den Fidschis dieselbe Sitte zu, welche wir bei den
 Tupis fanden und welche ja auch unter den Indogermanen eine so weit
 verbreitete war, dass alle Kinder, welche der Vater oder Priester
 nicht unmittelbar nach der Geburt vom Boden aufnimmt, als
 »ausgestossene« getödtet werden.</p>
        <p>Aber schlimmer noch und wahrhaft in entsetzlicher Ausdehnung
 tritt der Kindermord auf im übrigen Ozeanien. Wir beginnen mit
 Mikronesien. Während allerdings die Carolinen frei von diesem
 Verbrechen waren (Chamisso 137), durfte auf den Ratakinseln keine
 Mutter mehr als drei Kinder grossziehen: alle übrigen wurden
 umgebracht (Chamisso 119); und ebenso ist, um übergrosse
 Bevölkerung zu vermeiden, künstlicher Abortus bei den
 Gilbertinsulanern nach Gulick (410), allerdings gegen Hales
 Ansicht, häufig. Von der Kingswillgruppe, aber mit Ausnahme
 von Makin, sagt auch Hale dasselbe (96). Nach alledem, was wir von
 den marianischen Uritaos wissen, scheinen auch sie, obwohl
 bestimmte Daten darüber fehlen, die Kinder, welche ihnen bei
 ihren Ausschweifungen und namentlich die, welche von niederen
 Weibern geboren worden, getödtet zu haben.</p>
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 ältesten beiden Söhne am Leben, um die Insel nicht zu
 übervölkern, so wie alle Mädchen, daher die Insel
 weit mehr Weiber als Männer hat (Dillon 2, 134). Auf Tonga kam
 der Kindermord, dessen Motiv dann meist Trägheit oder
 Bequemlichkeit ist, nur vereinzelt vor (Mariner 2, 18-19), auf
 Samoa aber gar nicht (Wilkes 2, 80, Williams 560) und ebenso wenig,
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[0066] nicke a 2, 208). Ja es soll sogar vorkommen, dass Eltern ihre neugeborenen Kinder selbst auffressen (Stanbridge, transaction of the ethnol. Society X. S. 1, 289; Australia felix 129; Angas 1, 73). Auf Vandiemensland dagegen herrschte der Kindermord nicht (Bibra 16). Wohl aber in Melanesien, und so auf Vate (Gill 67), wo man neugeborene Kinder lebendig begrub und nur zwei bis drei aufzog (Turner 394), und ebenso war es auf Erromango (Turner 491) und in grösster Ausdehnung auf den Inseln in der nächsten Nähe von Neuguinea (Reina in Zeitschr. 4, 359). Auf den Fidschiinseln war der Kindermord gleichfalls nicht selten, wie Williams und Calvert (1, 180) berichten und das Gemälde, das sie entwerfen, ist düster genug: künstliche Fehlgeburten, Tödtung der Kinder, namentlich der Mädchen, gleich nach der Geburt, ist sehr häufig, aus Laune, aus Faulheit, aus Eifersucht und Rache; wie in Polynesien gab es auch hier in jedem Dorf Leute, welche Fehlgeburten herbeizuführen verstehen. Hale (66) schreibt den Fidschis dieselbe Sitte zu, welche wir bei den Tupis fanden und welche ja auch unter den Indogermanen eine so weit verbreitete war, dass alle Kinder, welche der Vater oder Priester nicht unmittelbar nach der Geburt vom Boden aufnimmt, als »ausgestossene« getödtet werden. Aber schlimmer noch und wahrhaft in entsetzlicher Ausdehnung tritt der Kindermord auf im übrigen Ozeanien. Wir beginnen mit Mikronesien. Während allerdings die Carolinen frei von diesem Verbrechen waren (Chamisso 137), durfte auf den Ratakinseln keine Mutter mehr als drei Kinder grossziehen: alle übrigen wurden umgebracht (Chamisso 119); und ebenso ist, um übergrosse Bevölkerung zu vermeiden, künstlicher Abortus bei den Gilbertinsulanern nach Gulick (410), allerdings gegen Hales Ansicht, häufig. Von der Kingswillgruppe, aber mit Ausnahme von Makin, sagt auch Hale dasselbe (96). Nach alledem, was wir von den marianischen Uritaos wissen, scheinen auch sie, obwohl bestimmte Daten darüber fehlen, die Kinder, welche ihnen bei ihren Ausschweifungen und namentlich die, welche von niederen Weibern geboren worden, getödtet zu haben. Im eigentlichen Polynesien nun bleiben auf Tikopia nur die ältesten beiden Söhne am Leben, um die Insel nicht zu übervölkern, so wie alle Mädchen, daher die Insel weit mehr Weiber als Männer hat (Dillon 2, 134). Auf Tonga kam der Kindermord, dessen Motiv dann meist Trägheit oder Bequemlichkeit ist, nur vereinzelt vor (Mariner 2, 18-19), auf Samoa aber gar nicht (Wilkes 2, 80, Williams 560) und ebenso wenig, um das hier gleich anzuschliessen, auf den Herveyinseln (Williams 560). Allein auf Tahiti war das Verbrechen so im Schwunge, dass Ellis (1, 249) annimmt, es habe sich in der Ausdehnung, wie er es

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/66>, abgerufen am 12.05.2024.