Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.welche von letzteren zu ersteren eingeschleppt wurden, haben im Durchschnitt gewiss ein Drittel, wenn nicht mehr, der Eingeborenen Amerikas, Afrikas und des stillen Ozeans dahingerafft. Die dritte Stufe in dieser Reihenfolge der Verderblichkeit geben wir den Ausschweifungen. Allerdings haben sie minder allgemein geschadet als jenes Niedergeschmettert- oder Inficirtwerden von aussen her; aber für die menschliche Natur sind sie noch gefährlicher, weil sie die innersten Lebensnerven zerstören und wo sie wirksam sind, keine Rettung durch Flucht oder durch Besiegung des Feindes möglich ist. Wir sahen die Polynesier, ein so glänzend begabtes Volk, verkommen, trotzdem dass ihrer sich die Kultur im Wesentlichen freundlich angenommen hat: sie waren im Innersten angefressen durch die Ausschweifungen, denen sie sich hingegeben hatten und sie wären auch ohne Berührung mit den Weissen und nach und nach immer rascher durch ihre eigenen Laster zu Grunde gegangen. Die Betrachtung der Polynesier lehrt uns die Gefahr der Ausschweifungen für ganze Völker erst richtig ermessen. Viertens muss der Kindermord genannt werden, welcher vor allen Dingen in Polynesien und in Südamerika heimisch war, so wie überhaupt der geringe Werth, welchen man dem Menschenleben beimisst. Dass aber letzteres allein ein Volk nicht wesentlich zurückbringt, beweist das Beispiel des Fidschiarchipels. Nirgends wird durch Menschenopfer, Krieg, Kannibalismus u. dergl. mehr Blut vergossen und Leben verschwendet als hier; und dennoch gehören diese Inseln zu den bevölkertsten der Südsee und ein Aussterben wird auf ihnen nicht bemerkt. Die Kriege haben zwar mancherlei Schwankungen unter den Naturvölkern herbeigeführt, auch wohl einzelne Stämme ganz aufgerieben, aber doch nirgends so gewirkt, dass wir sie in erster Reihe aufzuführen hätten. Ebenso ist es mit der elenden Lebensweise der meisten dieser Völker, welche zwar ihr fröhliches und kräftiges Gedeihen hindern konnte, nirgends aber, so weit unser Material der Beobachtung reicht, eine völlige Vernichtung herbeigeführt haben. Bei alle den roheren Nationen fanden wir auch vor der Berührung mit den Europäern die Kopfzahl nie sehr hoch und hierfür war eben ihre wandernde und kärgliche Lebensart der Grund. Beides nun, das schlechte Leben und die verhältnissmässig geringe Volksmenge unterstützen jedes andere über ein Volk hereinbrechende Uebel immer in so fern, als sie das Volk um so rückhaltsloser und rascher unterliegen lassen. Und ähnlich ist es mit allen den übrigen von uns angeführten Gründen, die alle erst dann wirksam werden, wenn sie mit anderen verbunden auftreten. Hierher gehören auch die unvermeidlichen Folgen der zu rasch herein brechenden und nur halb angenommenen Kultur, welche wir in so mancher Beziehung für die Naturvölker schädlich fanden. Allein welche von letzteren zu ersteren eingeschleppt wurden, haben im Durchschnitt gewiss ein Drittel, wenn nicht mehr, der Eingeborenen Amerikas, Afrikas und des stillen Ozeans dahingerafft. Die dritte Stufe in dieser Reihenfolge der Verderblichkeit geben wir den Ausschweifungen. Allerdings haben sie minder allgemein geschadet als jenes Niedergeschmettert- oder Inficirtwerden von aussen her; aber für die menschliche Natur sind sie noch gefährlicher, weil sie die innersten Lebensnerven zerstören und wo sie wirksam sind, keine Rettung durch Flucht oder durch Besiegung des Feindes möglich ist. Wir sahen die Polynesier, ein so glänzend begabtes Volk, verkommen, trotzdem dass ihrer sich die Kultur im Wesentlichen freundlich angenommen hat: sie waren im Innersten angefressen durch die Ausschweifungen, denen sie sich hingegeben hatten und sie wären auch ohne Berührung mit den Weissen und nach und nach immer rascher durch ihre eigenen Laster zu Grunde gegangen. Die Betrachtung der Polynesier lehrt uns die Gefahr der Ausschweifungen für ganze Völker erst richtig ermessen. Viertens muss der Kindermord genannt werden, welcher vor allen Dingen in Polynesien und in Südamerika heimisch war, so wie überhaupt der geringe Werth, welchen man dem Menschenleben beimisst. Dass aber letzteres allein ein Volk nicht wesentlich zurückbringt, beweist das Beispiel des Fidschiarchipels. Nirgends wird durch Menschenopfer, Krieg, Kannibalismus u. dergl. mehr Blut vergossen und Leben verschwendet als hier; und dennoch gehören diese Inseln zu den bevölkertsten der Südsee und ein Aussterben wird auf ihnen nicht bemerkt. Die Kriege haben zwar mancherlei Schwankungen unter den Naturvölkern herbeigeführt, auch wohl einzelne Stämme ganz aufgerieben, aber doch nirgends so gewirkt, dass wir sie in erster Reihe aufzuführen hätten. Ebenso ist es mit der elenden Lebensweise der meisten dieser Völker, welche zwar ihr fröhliches und kräftiges Gedeihen hindern konnte, nirgends aber, so weit unser Material der Beobachtung reicht, eine völlige Vernichtung herbeigeführt haben. Bei alle den roheren Nationen fanden wir auch vor der Berührung mit den Europäern die Kopfzahl nie sehr hoch und hierfür war eben ihre wandernde und kärgliche Lebensart der Grund. Beides nun, das schlechte Leben und die verhältnissmässig geringe Volksmenge unterstützen jedes andere über ein Volk hereinbrechende Uebel immer in so fern, als sie das Volk um so rückhaltsloser und rascher unterliegen lassen. Und ähnlich ist es mit allen den übrigen von uns angeführten Gründen, die alle erst dann wirksam werden, wenn sie mit anderen verbunden auftreten. Hierher gehören auch die unvermeidlichen Folgen der zu rasch herein brechenden und nur halb angenommenen Kultur, welche wir in so mancher Beziehung für die Naturvölker schädlich fanden. Allein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0131"/> welche von letzteren zu ersteren eingeschleppt wurden, haben im Durchschnitt gewiss ein Drittel, wenn nicht mehr, der Eingeborenen Amerikas, Afrikas und des stillen Ozeans dahingerafft.</p> <p>Die dritte Stufe in dieser Reihenfolge der Verderblichkeit geben wir den Ausschweifungen. Allerdings haben sie minder allgemein geschadet als jenes Niedergeschmettert- oder Inficirtwerden von aussen her; aber für die menschliche Natur sind sie noch gefährlicher, weil sie die innersten Lebensnerven zerstören und wo sie wirksam sind, keine Rettung durch Flucht oder durch Besiegung des Feindes möglich ist. Wir sahen die Polynesier, ein so glänzend begabtes Volk, verkommen, trotzdem dass ihrer sich die Kultur im Wesentlichen freundlich angenommen hat: sie waren im Innersten angefressen durch die Ausschweifungen, denen sie sich hingegeben hatten und sie wären auch ohne Berührung mit den Weissen und nach und nach immer rascher durch ihre eigenen Laster zu Grunde gegangen. Die Betrachtung der Polynesier lehrt uns die Gefahr der Ausschweifungen für ganze Völker erst richtig ermessen.</p> <p>Viertens muss der Kindermord genannt werden, welcher vor allen Dingen in Polynesien und in Südamerika heimisch war, so wie überhaupt der geringe Werth, welchen man dem Menschenleben beimisst. Dass aber letzteres allein ein Volk nicht wesentlich zurückbringt, beweist das Beispiel des Fidschiarchipels. Nirgends wird durch Menschenopfer, Krieg, Kannibalismus u. dergl. mehr Blut vergossen und Leben verschwendet als hier; und dennoch gehören diese Inseln zu den bevölkertsten der Südsee und ein Aussterben wird auf ihnen nicht bemerkt.</p> <p>Die Kriege haben zwar mancherlei Schwankungen unter den Naturvölkern herbeigeführt, auch wohl einzelne Stämme ganz aufgerieben, aber doch nirgends so gewirkt, dass wir sie in erster Reihe aufzuführen hätten. Ebenso ist es mit der elenden Lebensweise der meisten dieser Völker, welche zwar ihr fröhliches und kräftiges Gedeihen hindern konnte, nirgends aber, so weit unser Material der Beobachtung reicht, eine völlige Vernichtung herbeigeführt haben. Bei alle den roheren Nationen fanden wir auch vor der Berührung mit den Europäern die Kopfzahl nie sehr hoch und hierfür war eben ihre wandernde und kärgliche Lebensart der Grund. Beides nun, das schlechte Leben und die verhältnissmässig geringe Volksmenge unterstützen jedes andere über ein Volk hereinbrechende Uebel immer in so fern, als sie das Volk um so rückhaltsloser und rascher unterliegen lassen. Und ähnlich ist es mit allen den übrigen von uns angeführten Gründen, die alle erst dann wirksam werden, wenn sie mit anderen verbunden auftreten.</p> <p>Hierher gehören auch die unvermeidlichen Folgen der zu rasch herein brechenden und nur halb angenommenen Kultur, welche wir in so mancher Beziehung für die Naturvölker schädlich fanden. Allein </p> </div> </body> </text> </TEI> [0131]
welche von letzteren zu ersteren eingeschleppt wurden, haben im Durchschnitt gewiss ein Drittel, wenn nicht mehr, der Eingeborenen Amerikas, Afrikas und des stillen Ozeans dahingerafft.
Die dritte Stufe in dieser Reihenfolge der Verderblichkeit geben wir den Ausschweifungen. Allerdings haben sie minder allgemein geschadet als jenes Niedergeschmettert- oder Inficirtwerden von aussen her; aber für die menschliche Natur sind sie noch gefährlicher, weil sie die innersten Lebensnerven zerstören und wo sie wirksam sind, keine Rettung durch Flucht oder durch Besiegung des Feindes möglich ist. Wir sahen die Polynesier, ein so glänzend begabtes Volk, verkommen, trotzdem dass ihrer sich die Kultur im Wesentlichen freundlich angenommen hat: sie waren im Innersten angefressen durch die Ausschweifungen, denen sie sich hingegeben hatten und sie wären auch ohne Berührung mit den Weissen und nach und nach immer rascher durch ihre eigenen Laster zu Grunde gegangen. Die Betrachtung der Polynesier lehrt uns die Gefahr der Ausschweifungen für ganze Völker erst richtig ermessen.
Viertens muss der Kindermord genannt werden, welcher vor allen Dingen in Polynesien und in Südamerika heimisch war, so wie überhaupt der geringe Werth, welchen man dem Menschenleben beimisst. Dass aber letzteres allein ein Volk nicht wesentlich zurückbringt, beweist das Beispiel des Fidschiarchipels. Nirgends wird durch Menschenopfer, Krieg, Kannibalismus u. dergl. mehr Blut vergossen und Leben verschwendet als hier; und dennoch gehören diese Inseln zu den bevölkertsten der Südsee und ein Aussterben wird auf ihnen nicht bemerkt.
Die Kriege haben zwar mancherlei Schwankungen unter den Naturvölkern herbeigeführt, auch wohl einzelne Stämme ganz aufgerieben, aber doch nirgends so gewirkt, dass wir sie in erster Reihe aufzuführen hätten. Ebenso ist es mit der elenden Lebensweise der meisten dieser Völker, welche zwar ihr fröhliches und kräftiges Gedeihen hindern konnte, nirgends aber, so weit unser Material der Beobachtung reicht, eine völlige Vernichtung herbeigeführt haben. Bei alle den roheren Nationen fanden wir auch vor der Berührung mit den Europäern die Kopfzahl nie sehr hoch und hierfür war eben ihre wandernde und kärgliche Lebensart der Grund. Beides nun, das schlechte Leben und die verhältnissmässig geringe Volksmenge unterstützen jedes andere über ein Volk hereinbrechende Uebel immer in so fern, als sie das Volk um so rückhaltsloser und rascher unterliegen lassen. Und ähnlich ist es mit allen den übrigen von uns angeführten Gründen, die alle erst dann wirksam werden, wenn sie mit anderen verbunden auftreten.
Hierher gehören auch die unvermeidlichen Folgen der zu rasch herein brechenden und nur halb angenommenen Kultur, welche wir in so mancher Beziehung für die Naturvölker schädlich fanden. Allein
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