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Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

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Dritter Abschnitt.

Der Richter hat nur wirkliches Recht zur Anwen-
dung zu bringen. Er ist daher verpflichtet, zu prüfen,
ob die angezogene Verordnung eine verfassungsgemässe
und ob das angezogene Gesetz ein wirkliches Gesetz,
oder nur eine mit dem falschen Scheine eines solchen
bekleidete Publication sei.5 Bei dieser Prüfung aber ist
ihm die vom Staatsoberhaupte und dem verantwortlichen
Ministerium ausgehende Beglaubigung der Legalität die
zunächst zu respectirende Autorität. Der Richter em-
pfängt das Gesetz durch Verfügung des Monarchen;
der Monarch bezeugt ihm in der Publicationsformel,
dass die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände
stattgefunden habe, dass der Fall einer Nothgesetzge-
bung oder einer königlichen Verordnung gegeben sei, --
dieses Zeugniss des höchsten staatlichen Organs hat
der Richter zunächst zu beachten, er hat weder das
Recht noch die Pflicht, unter Beiseitelegung desselben
sich wegen individueller Zweifel auf den Standpunkt
rücksichtsloser Kritik zu stellen.6 Aber die Wirksam-

5 Selbstverständlich ist es, dass der Richter diese Frage nur
aus Anlass der Anwendung eines Satzes des angeblichen Gesetzes
auf einen einzelnen Fall und nur insoweit, als dieser Anlass reicht,
zu beantworten hat.
6 Dieser Punkt, der ein unentbehrliches Bindeglied in der
Theorie dieses Gegenstands bildet, wird fast immer übersehen.
Er ist so wichtig, dass eigentlich Alles auf ihn und die Beant-
wortung der Frage ankommt: wie weit ist der Richter verpflichtet,
die autoritative Wirkung des officiellen Legalitätszeugnisses gelten
zu lassen, und wann beginnt seine Verpflichtung und sein Recht
der eigenen Prüfung, d. h. wann muss er jene Beglaubigung für
entkräftet halten. Die Nothwendigkeit der Respectirung dieser
Beglaubigung bis auf einen gewissen Grad steht mit der Unab-
hängigkeit der Gerichte nicht im Widerspruche; aber ihre Ab-
Dritter Abschnitt.

Der Richter hat nur wirkliches Recht zur Anwen-
dung zu bringen. Er ist daher verpflichtet, zu prüfen,
ob die angezogene Verordnung eine verfassungsgemässe
und ob das angezogene Gesetz ein wirkliches Gesetz,
oder nur eine mit dem falschen Scheine eines solchen
bekleidete Publication sei.5 Bei dieser Prüfung aber ist
ihm die vom Staatsoberhaupte und dem verantwortlichen
Ministerium ausgehende Beglaubigung der Legalität die
zunächst zu respectirende Autorität. Der Richter em-
pfängt das Gesetz durch Verfügung des Monarchen;
der Monarch bezeugt ihm in der Publicationsformel,
dass die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände
stattgefunden habe, dass der Fall einer Nothgesetzge-
bung oder einer königlichen Verordnung gegeben sei, —
dieses Zeugniss des höchsten staatlichen Organs hat
der Richter zunächst zu beachten, er hat weder das
Recht noch die Pflicht, unter Beiseitelegung desselben
sich wegen individueller Zweifel auf den Standpunkt
rücksichtsloser Kritik zu stellen.6 Aber die Wirksam-

5 Selbstverständlich ist es, dass der Richter diese Frage nur
aus Anlass der Anwendung eines Satzes des angeblichen Gesetzes
auf einen einzelnen Fall und nur insoweit, als dieser Anlass reicht,
zu beantworten hat.
6 Dieser Punkt, der ein unentbehrliches Bindeglied in der
Theorie dieses Gegenstands bildet, wird fast immer übersehen.
Er ist so wichtig, dass eigentlich Alles auf ihn und die Beant-
wortung der Frage ankommt: wie weit ist der Richter verpflichtet,
die autoritative Wirkung des officiellen Legalitätszeugnisses gelten
zu lassen, und wann beginnt seine Verpflichtung und sein Recht
der eigenen Prüfung, d. h. wann muss er jene Beglaubigung für
entkräftet halten. Die Nothwendigkeit der Respectirung dieser
Beglaubigung bis auf einen gewissen Grad steht mit der Unab-
hängigkeit der Gerichte nicht im Widerspruche; aber ihre Ab-
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[152/0170] Dritter Abschnitt. Der Richter hat nur wirkliches Recht zur Anwen- dung zu bringen. Er ist daher verpflichtet, zu prüfen, ob die angezogene Verordnung eine verfassungsgemässe und ob das angezogene Gesetz ein wirkliches Gesetz, oder nur eine mit dem falschen Scheine eines solchen bekleidete Publication sei. 5 Bei dieser Prüfung aber ist ihm die vom Staatsoberhaupte und dem verantwortlichen Ministerium ausgehende Beglaubigung der Legalität die zunächst zu respectirende Autorität. Der Richter em- pfängt das Gesetz durch Verfügung des Monarchen; der Monarch bezeugt ihm in der Publicationsformel, dass die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände stattgefunden habe, dass der Fall einer Nothgesetzge- bung oder einer königlichen Verordnung gegeben sei, — dieses Zeugniss des höchsten staatlichen Organs hat der Richter zunächst zu beachten, er hat weder das Recht noch die Pflicht, unter Beiseitelegung desselben sich wegen individueller Zweifel auf den Standpunkt rücksichtsloser Kritik zu stellen. 6 Aber die Wirksam- 5 Selbstverständlich ist es, dass der Richter diese Frage nur aus Anlass der Anwendung eines Satzes des angeblichen Gesetzes auf einen einzelnen Fall und nur insoweit, als dieser Anlass reicht, zu beantworten hat. 6 Dieser Punkt, der ein unentbehrliches Bindeglied in der Theorie dieses Gegenstands bildet, wird fast immer übersehen. Er ist so wichtig, dass eigentlich Alles auf ihn und die Beant- wortung der Frage ankommt: wie weit ist der Richter verpflichtet, die autoritative Wirkung des officiellen Legalitätszeugnisses gelten zu lassen, und wann beginnt seine Verpflichtung und sein Recht der eigenen Prüfung, d. h. wann muss er jene Beglaubigung für entkräftet halten. Die Nothwendigkeit der Respectirung dieser Beglaubigung bis auf einen gewissen Grad steht mit der Unab- hängigkeit der Gerichte nicht im Widerspruche; aber ihre Ab-

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Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/170>, abgerufen am 23.11.2024.