Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 49. Formwidrige Gesetze.
keit dieser Beglaubigung hat ihre Gränze. Wenn die
Ständeversammlung geltend macht, dass die behauptete
ständische Mitwirkung nicht, oder nicht ordnungsmässig
stattgefunden hat, oder wenn sie bestreitet, dass die
Verordnung ohne Verabschiedung hätte erlassen werden
können, so ist für den Richter die autoritative Wirkung
des königlichen Zeugnisses durch die Gegenautorität des
anderen staatlichen Organs aufgehoben, und er nun-
mehr
auf die eigene Kritik verwiesen.7 Es bedarf so-
gar nicht immer erst der Gegenautorität der Stände, um
für ihn die Bedeutung jenes Legalitätszeugnisses zu ent-
kräften; findet er, dass es mit notorischen und entschei-
denden Thatsachen8 oder unzweifelhaften Rechtssätzen9

läugnung würde die Gerichte völlig aus der organischen Ver-
bindung mit den übrigen Gliedern des Staats herausziehen und sie
ausserhalb alles Zusammenhangs mit ihnen stellen. Aus diesem
Gedankengange heraus
erscheint es nun nicht nur nicht
unwissenschaftlich, sondern innerlich völlig gerechtfertigt, wenn
man, wie das Sächsische Civilstaatsdienergesetz von 1835 §. 7. thut,
Fälle der blossen Zweifelhaftigkeit der Gesetzmässigkeit
entgegensetzt den Fällen, in denen, wie sich das Strafgesetzbuch
von 1855 §. 94. bei einem ähnlichen Anlasse ausdrückt, die Gesetz-
widrigkeit "sofort in die Augen fällt." (Siehe Milhauser,
Staatsrecht des Königreichs Sachsen I., S. 215 Note a.) -- Dass der
Richter im Falle eines Nothgesetzes niemals über die Frage, ob
wirklich ein Nothfall vorhanden war, zu urtheilen habe, wird wohl
allgemein anerkannt.
7 Er hat also den Beschluss der Kammer nicht in dem Sinne
auf sich wirken zu lassen, dass er seinen Inhalt nun ohne Weiteres
hinnehmen müsste, sondern in dem Sinne, dass nun seine Pflicht
eigener Prüfung beginnt.
8 Z. B. wenn nicht die allgemeine Ständeversammlung, son-
dern etwa nur Provinzialstände gefragt wurden.
9 Z. B. wenn im Verordnungswege ein Artikel der Verfassung,
des Strafgesetzbuchs, des Hypothekengesetzes u. s. w. abgeändert
werden soll.

§. 49. Formwidrige Gesetze.
keit dieser Beglaubigung hat ihre Gränze. Wenn die
Ständeversammlung geltend macht, dass die behauptete
ständische Mitwirkung nicht, oder nicht ordnungsmässig
stattgefunden hat, oder wenn sie bestreitet, dass die
Verordnung ohne Verabschiedung hätte erlassen werden
können, so ist für den Richter die autoritative Wirkung
des königlichen Zeugnisses durch die Gegenautorität des
anderen staatlichen Organs aufgehoben, und er nun-
mehr
auf die eigene Kritik verwiesen.7 Es bedarf so-
gar nicht immer erst der Gegenautorität der Stände, um
für ihn die Bedeutung jenes Legalitätszeugnisses zu ent-
kräften; findet er, dass es mit notorischen und entschei-
denden Thatsachen8 oder unzweifelhaften Rechtssätzen9

läugnung würde die Gerichte völlig aus der organischen Ver-
bindung mit den übrigen Gliedern des Staats herausziehen und sie
ausserhalb alles Zusammenhangs mit ihnen stellen. Aus diesem
Gedankengange heraus
erscheint es nun nicht nur nicht
unwissenschaftlich, sondern innerlich völlig gerechtfertigt, wenn
man, wie das Sächsische Civilstaatsdienergesetz von 1835 §. 7. thut,
Fälle der blossen Zweifelhaftigkeit der Gesetzmässigkeit
entgegensetzt den Fällen, in denen, wie sich das Strafgesetzbuch
von 1855 §. 94. bei einem ähnlichen Anlasse ausdrückt, die Gesetz-
widrigkeit „sofort in die Augen fällt.“ (Siehe Milhauser,
Staatsrecht des Königreichs Sachsen I., S. 215 Note a.) — Dass der
Richter im Falle eines Nothgesetzes niemals über die Frage, ob
wirklich ein Nothfall vorhanden war, zu urtheilen habe, wird wohl
allgemein anerkannt.
7 Er hat also den Beschluss der Kammer nicht in dem Sinne
auf sich wirken zu lassen, dass er seinen Inhalt nun ohne Weiteres
hinnehmen müsste, sondern in dem Sinne, dass nun seine Pflicht
eigener Prüfung beginnt.
8 Z. B. wenn nicht die allgemeine Ständeversammlung, son-
dern etwa nur Provinzialstände gefragt wurden.
9 Z. B. wenn im Verordnungswege ein Artikel der Verfassung,
des Strafgesetzbuchs, des Hypothekengesetzes u. s. w. abgeändert
werden soll.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0171" n="153"/><fw place="top" type="header">§. 49. Formwidrige Gesetze.</fw><lb/>
keit dieser Beglaubigung hat ihre Gränze. Wenn die<lb/>
Ständeversammlung geltend macht, dass die behauptete<lb/>
ständische Mitwirkung nicht, oder nicht ordnungsmässig<lb/>
stattgefunden hat, oder wenn sie bestreitet, dass die<lb/>
Verordnung ohne Verabschiedung hätte erlassen werden<lb/>
können, so ist für den Richter die autoritative Wirkung<lb/>
des königlichen Zeugnisses durch die Gegenautorität des<lb/>
anderen staatlichen Organs aufgehoben, und er <hi rendition="#g">nun-<lb/>
mehr</hi> auf die eigene Kritik verwiesen.<note place="foot" n="7">Er hat also den Beschluss der Kammer nicht in dem Sinne<lb/>
auf sich wirken zu lassen, dass er seinen Inhalt nun ohne Weiteres<lb/>
hinnehmen müsste, sondern in dem Sinne, dass nun seine Pflicht<lb/>
eigener Prüfung beginnt.</note> Es bedarf so-<lb/>
gar nicht immer erst der Gegenautorität der Stände, um<lb/>
für ihn die Bedeutung jenes Legalitätszeugnisses zu ent-<lb/>
kräften; findet er, dass es mit notorischen und entschei-<lb/>
denden Thatsachen<note place="foot" n="8">Z. B. wenn nicht die allgemeine Ständeversammlung, son-<lb/>
dern etwa nur Provinzialstände gefragt wurden.</note> oder unzweifelhaften Rechtssätzen<note place="foot" n="9">Z. B. wenn im Verordnungswege ein Artikel der Verfassung,<lb/>
des Strafgesetzbuchs, des Hypothekengesetzes u. s. w. abgeändert<lb/>
werden soll.</note><lb/><note xml:id="note-0171" prev="#note-0170" place="foot" n="6">läugnung würde die Gerichte völlig aus der organischen Ver-<lb/>
bindung mit den übrigen Gliedern des Staats herausziehen und sie<lb/>
ausserhalb alles Zusammenhangs mit ihnen stellen. <hi rendition="#g">Aus diesem<lb/>
Gedankengange heraus</hi> erscheint es nun nicht nur nicht<lb/>
unwissenschaftlich, sondern innerlich völlig gerechtfertigt, wenn<lb/>
man, wie das Sächsische Civilstaatsdienergesetz von 1835 §. 7. thut,<lb/>
Fälle der blossen <hi rendition="#g">Zweifelhaftigkeit</hi> der Gesetzmässigkeit<lb/>
entgegensetzt den Fällen, in denen, wie sich das Strafgesetzbuch<lb/>
von 1855 §. 94. bei einem ähnlichen Anlasse ausdrückt, die Gesetz-<lb/>
widrigkeit <hi rendition="#g">&#x201E;sofort in die Augen fällt.&#x201C;</hi> (Siehe <hi rendition="#g">Milhauser,</hi><lb/>
Staatsrecht des Königreichs Sachsen I., S. 215 Note a.) &#x2014; Dass der<lb/>
Richter im Falle eines Nothgesetzes niemals über die Frage, ob<lb/>
wirklich ein Nothfall vorhanden war, zu urtheilen habe, wird wohl<lb/>
allgemein anerkannt.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0171] §. 49. Formwidrige Gesetze. keit dieser Beglaubigung hat ihre Gränze. Wenn die Ständeversammlung geltend macht, dass die behauptete ständische Mitwirkung nicht, oder nicht ordnungsmässig stattgefunden hat, oder wenn sie bestreitet, dass die Verordnung ohne Verabschiedung hätte erlassen werden können, so ist für den Richter die autoritative Wirkung des königlichen Zeugnisses durch die Gegenautorität des anderen staatlichen Organs aufgehoben, und er nun- mehr auf die eigene Kritik verwiesen. 7 Es bedarf so- gar nicht immer erst der Gegenautorität der Stände, um für ihn die Bedeutung jenes Legalitätszeugnisses zu ent- kräften; findet er, dass es mit notorischen und entschei- denden Thatsachen 8 oder unzweifelhaften Rechtssätzen 9 6 7 Er hat also den Beschluss der Kammer nicht in dem Sinne auf sich wirken zu lassen, dass er seinen Inhalt nun ohne Weiteres hinnehmen müsste, sondern in dem Sinne, dass nun seine Pflicht eigener Prüfung beginnt. 8 Z. B. wenn nicht die allgemeine Ständeversammlung, son- dern etwa nur Provinzialstände gefragt wurden. 9 Z. B. wenn im Verordnungswege ein Artikel der Verfassung, des Strafgesetzbuchs, des Hypothekengesetzes u. s. w. abgeändert werden soll. 6 läugnung würde die Gerichte völlig aus der organischen Ver- bindung mit den übrigen Gliedern des Staats herausziehen und sie ausserhalb alles Zusammenhangs mit ihnen stellen. Aus diesem Gedankengange heraus erscheint es nun nicht nur nicht unwissenschaftlich, sondern innerlich völlig gerechtfertigt, wenn man, wie das Sächsische Civilstaatsdienergesetz von 1835 §. 7. thut, Fälle der blossen Zweifelhaftigkeit der Gesetzmässigkeit entgegensetzt den Fällen, in denen, wie sich das Strafgesetzbuch von 1855 §. 94. bei einem ähnlichen Anlasse ausdrückt, die Gesetz- widrigkeit „sofort in die Augen fällt.“ (Siehe Milhauser, Staatsrecht des Königreichs Sachsen I., S. 215 Note a.) — Dass der Richter im Falle eines Nothgesetzes niemals über die Frage, ob wirklich ein Nothfall vorhanden war, zu urtheilen habe, wird wohl allgemein anerkannt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/171
Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/171>, abgerufen am 23.11.2024.