[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.Gräfinn von G** je mehr er redte, daß etwas in meinem Herzenvorgieng; allein ich hatte keine Lust, es zu un- tersuchen, und ich hütete mich zugleich, mein Herz nicht zu stören. Jch nannte meine Re- gungen bey mir selbst, Wirkungen seiner Un- glücksfälle, und setzte mich in Gedanken nie- der, und ließ ihn lange fortreden, ohne ein Wort zu sagen. Als er mir die Grausamkeit erzählte, die man in der Stadt Moskau an ihm und dem Sidne begangen: so fühl- te ich weit mehr, als da sie mir der Graf er- zählt hatte. Es war mir unmöglich, die Thrä- nen zurück zu halten, und ich wollte doch auch nicht, daß er meine Wehmuth sehn sollte. Jch fragte ihn in der Angst, wie alt sein Vater wäre, und wie lange er ihn nunmehr nicht ge- sehn hätte, nur damit ich das Wort: der ar- me Mann! das mir mein Herz für ihn abnö- thigte, nebst einigen Thränen bey seinem Va- ter anbringen konnte. Jch führte ihn durch ziemlich neugierige Fragen in die Umstände seiner Familie und seiner Jugend zurück. Er fieng endlich an, von der traurigen Begeben- heit mit seiner Braut in Engelland zu erzäh- len, und ich ward so gerührt, daß ich recht ge- waltsam von meinem Stuhle aufsprang, und ganz nah zu ihm trat; vielleicht hatte ich das letzte schon gewünscht. Er ward bey dieser Erzäh-
Graͤfinn von G** je mehr er redte, daß etwas in meinem Herzenvorgieng; allein ich hatte keine Luſt, es zu un- terſuchen, und ich huͤtete mich zugleich, mein Herz nicht zu ſtoͤren. Jch nannte meine Re- gungen bey mir ſelbſt, Wirkungen ſeiner Un- gluͤcksfaͤlle, und ſetzte mich in Gedanken nie- der, und ließ ihn lange fortreden, ohne ein Wort zu ſagen. Als er mir die Grauſamkeit erzaͤhlte, die man in der Stadt Moskau an ihm und dem Sidne begangen: ſo fuͤhl- te ich weit mehr, als da ſie mir der Graf er- zaͤhlt hatte. Es war mir unmoͤglich, die Thraͤ- nen zuruͤck zu halten, und ich wollte doch auch nicht, daß er meine Wehmuth ſehn ſollte. Jch fragte ihn in der Angſt, wie alt ſein Vater waͤre, und wie lange er ihn nunmehr nicht ge- ſehn haͤtte, nur damit ich das Wort: der ar- me Mann! das mir mein Herz fuͤr ihn abnoͤ- thigte, nebſt einigen Thraͤnen bey ſeinem Va- ter anbringen konnte. Jch fuͤhrte ihn durch ziemlich neugierige Fragen in die Umſtaͤnde ſeiner Familie und ſeiner Jugend zuruͤck. Er fieng endlich an, von der traurigen Begeben- heit mit ſeiner Braut in Engelland zu erzaͤh- len, und ich ward ſo geruͤhrt, daß ich recht ge- waltſam von meinem Stuhle aufſprang, und ganz nah zu ihm trat; vielleicht hatte ich das letzte ſchon gewuͤnſcht. Er ward bey dieſer Erzaͤh-
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Graͤfinn von G**
je mehr er redte, daß etwas in meinem Herzen
vorgieng; allein ich hatte keine Luſt, es zu un-
terſuchen, und ich huͤtete mich zugleich, mein
Herz nicht zu ſtoͤren. Jch nannte meine Re-
gungen bey mir ſelbſt, Wirkungen ſeiner Un-
gluͤcksfaͤlle, und ſetzte mich in Gedanken nie-
der, und ließ ihn lange fortreden, ohne ein
Wort zu ſagen. Als er mir die Grauſamkeit
erzaͤhlte, die man in der Stadt Moskau an
ihm und dem Sidne begangen: ſo fuͤhl-
te ich weit mehr, als da ſie mir der Graf er-
zaͤhlt hatte. Es war mir unmoͤglich, die Thraͤ-
nen zuruͤck zu halten, und ich wollte doch auch
nicht, daß er meine Wehmuth ſehn ſollte. Jch
fragte ihn in der Angſt, wie alt ſein Vater
waͤre, und wie lange er ihn nunmehr nicht ge-
ſehn haͤtte, nur damit ich das Wort: der ar-
me Mann! das mir mein Herz fuͤr ihn abnoͤ-
thigte, nebſt einigen Thraͤnen bey ſeinem Va-
ter anbringen konnte. Jch fuͤhrte ihn durch
ziemlich neugierige Fragen in die Umſtaͤnde
ſeiner Familie und ſeiner Jugend zuruͤck. Er
fieng endlich an, von der traurigen Begeben-
heit mit ſeiner Braut in Engelland zu erzaͤh-
len, und ich ward ſo geruͤhrt, daß ich recht ge-
waltſam von meinem Stuhle aufſprang, und
ganz nah zu ihm trat; vielleicht hatte ich das
letzte ſchon gewuͤnſcht. Er ward bey dieſer
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