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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

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Gräfinn von G**
bracht. Jch kam selten von seiner Seite und
sann bey jeder Gefälligkeit, die ich ihm erwei-
sen konnte, schon auf eine neue. Wenn wir
unser Herz ausgeredet hatten: so las ich ihm
etwas vor, und wenn ich nicht mehr lesen
konnte, so that ers. Diese glückliche Beschäf-
tigung mit dem Geiste der besten Scribenten,
die der Graf so lange entbehrt hatte, nahm
uns den größten Theil des Tages weg, und
breitete ihr Vergnügen über unsere Gespräche,
über unsere Mahlzeiten und über alle unsere
Zärtlichkeiten aus. Wir hielten keine Gesell-
schaften und fühlten doch nie die Beschwerlich-
keit der Langenweile. Wenn wir mitten in
unsern Vergnügungen recht empfindlich ge-
rührt seyn wollten: so dachten wir unserm
Schicksale nach. Diejenigen, die niemals
unter grossen Unglücksfällen geseufzt haben,
wissen gar nicht, was für eine Wollust in die-
sen Betrachtungen zu finden ist. Man ent-
kleidet sich in solchen Augenblicken von al-
lem seinen natürlichen Stolze; man sieht, in-
dem man sein Schicksal durchschaut, sein Un-
vermögen, sich selber glücklich zu machen, und
überläßt sich den Entzückungen der Dankbar-
keit, die uns nicht länger wollen nachdenken
lassen. Der Graf setzte zuweilen ganze Tage
zu dieser Absicht aus und wandte sie zu Wer-

ken
E 4

Graͤfinn von G**
bracht. Jch kam ſelten von ſeiner Seite und
ſann bey jeder Gefaͤlligkeit, die ich ihm erwei-
ſen konnte, ſchon auf eine neue. Wenn wir
unſer Herz ausgeredet hatten: ſo las ich ihm
etwas vor, und wenn ich nicht mehr leſen
konnte, ſo that ers. Dieſe gluͤckliche Beſchaͤf-
tigung mit dem Geiſte der beſten Scribenten,
die der Graf ſo lange entbehrt hatte, nahm
uns den groͤßten Theil des Tages weg, und
breitete ihr Vergnuͤgen uͤber unſere Geſpraͤche,
uͤber unſere Mahlzeiten und uͤber alle unſere
Zaͤrtlichkeiten aus. Wir hielten keine Geſell-
ſchaften und fuͤhlten doch nie die Beſchwerlich-
keit der Langenweile. Wenn wir mitten in
unſern Vergnuͤgungen recht empfindlich ge-
ruͤhrt ſeyn wollten: ſo dachten wir unſerm
Schickſale nach. Diejenigen, die niemals
unter groſſen Ungluͤcksfaͤllen geſeufzt haben,
wiſſen gar nicht, was fuͤr eine Wolluſt in die-
ſen Betrachtungen zu finden iſt. Man ent-
kleidet ſich in ſolchen Augenblicken von al-
lem ſeinen natuͤrlichen Stolze; man ſieht, in-
dem man ſein Schickſal durchſchaut, ſein Un-
vermoͤgen, ſich ſelber gluͤcklich zu machen, und
uͤberlaͤßt ſich den Entzuͤckungen der Dankbar-
keit, die uns nicht laͤnger wollen nachdenken
laſſen. Der Graf ſetzte zuweilen ganze Tage
zu dieſer Abſicht aus und wandte ſie zu Wer-

ken
E 4
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[71/0071] Graͤfinn von G** bracht. Jch kam ſelten von ſeiner Seite und ſann bey jeder Gefaͤlligkeit, die ich ihm erwei- ſen konnte, ſchon auf eine neue. Wenn wir unſer Herz ausgeredet hatten: ſo las ich ihm etwas vor, und wenn ich nicht mehr leſen konnte, ſo that ers. Dieſe gluͤckliche Beſchaͤf- tigung mit dem Geiſte der beſten Scribenten, die der Graf ſo lange entbehrt hatte, nahm uns den groͤßten Theil des Tages weg, und breitete ihr Vergnuͤgen uͤber unſere Geſpraͤche, uͤber unſere Mahlzeiten und uͤber alle unſere Zaͤrtlichkeiten aus. Wir hielten keine Geſell- ſchaften und fuͤhlten doch nie die Beſchwerlich- keit der Langenweile. Wenn wir mitten in unſern Vergnuͤgungen recht empfindlich ge- ruͤhrt ſeyn wollten: ſo dachten wir unſerm Schickſale nach. Diejenigen, die niemals unter groſſen Ungluͤcksfaͤllen geſeufzt haben, wiſſen gar nicht, was fuͤr eine Wolluſt in die- ſen Betrachtungen zu finden iſt. Man ent- kleidet ſich in ſolchen Augenblicken von al- lem ſeinen natuͤrlichen Stolze; man ſieht, in- dem man ſein Schickſal durchſchaut, ſein Un- vermoͤgen, ſich ſelber gluͤcklich zu machen, und uͤberlaͤßt ſich den Entzuͤckungen der Dankbar- keit, die uns nicht laͤnger wollen nachdenken laſſen. Der Graf ſetzte zuweilen ganze Tage zu dieſer Abſicht aus und wandte ſie zu Wer- ken E 4

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/71>, abgerufen am 28.04.2024.