[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.Gräfinn von G** ihn schon oft gefragt, wie es ihm gegangenwäre; und er hatte mir nichts geantwortet, als: wie es mir gegangen ist, mein lieber Graf, wie es mir gegangen ist? Ja, ich wür- de ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit doch nicht haben zuhören können, wenn er mir auch meine Fragen beantwortet hätte, so be- stürmt war ich von den Trieben der Freund- schaft und der Freude. Jch reichte ihm ein halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht, und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Mos- kau damit tractiret hatte. Wir wurden nach und nach unser mächtig. Wir hatten einan- der so viel zu erzählen, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen sollten. Unter diesen Un- terredungen verstrichen ganze Tage und Näch- te und eben so viele unter den Wiederholun- gen unserer Begebenheiten. Steeley hatte in seinem Elende weit mehr erlitten, als ich. Ohne Mitleiden, ohne Freund war er die ganze Zeit ein Sclave, und was noch mehr ist, ein Gefährte des boshaften Mitgefangnen, des Knees Eskin, gewesen. Dieses Ungeheuer hatte ihm seine Hütte des Abends zur Hölle ge- macht, wenn er den Tag über die Last der Sclaverey überstanden. Von tausend nie- derträchtigen Streichen, vor welchen die Na- tur erschrickt, will ich nur einen erzählen. Stee- II Theil. D
Graͤfinn von G** ihn ſchon oft gefragt, wie es ihm gegangenwaͤre; und er hatte mir nichts geantwortet, als: wie es mir gegangen iſt, mein lieber Graf, wie es mir gegangen iſt? Ja, ich wuͤr- de ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit doch nicht haben zuhoͤren koͤnnen, wenn er mir auch meine Fragen beantwortet haͤtte, ſo be- ſtuͤrmt war ich von den Trieben der Freund- ſchaft und der Freude. Jch reichte ihm ein halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht, und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Mos- kau damit tractiret hatte. Wir wurden nach und nach unſer maͤchtig. Wir hatten einan- der ſo viel zu erzaͤhlen, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen ſollten. Unter dieſen Un- terredungen verſtrichen ganze Tage und Naͤch- te und eben ſo viele unter den Wiederholun- gen unſerer Begebenheiten. Steeley hatte in ſeinem Elende weit mehr erlitten, als ich. Ohne Mitleiden, ohne Freund war er die ganze Zeit ein Sclave, und was noch mehr iſt, ein Gefaͤhrte des boshaften Mitgefangnen, des Knees Eskin, geweſen. Dieſes Ungeheuer hatte ihm ſeine Huͤtte des Abends zur Hoͤlle ge- macht, wenn er den Tag uͤber die Laſt der Sclaverey uͤberſtanden. Von tauſend nie- dertraͤchtigen Streichen, vor welchen die Na- tur erſchrickt, will ich nur einen erzaͤhlen. Stee- II Theil. D
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Graͤfinn von G**
ihn ſchon oft gefragt, wie es ihm gegangen
waͤre; und er hatte mir nichts geantwortet,
als: wie es mir gegangen iſt, mein lieber
Graf, wie es mir gegangen iſt? Ja, ich wuͤr-
de ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit doch
nicht haben zuhoͤren koͤnnen, wenn er mir
auch meine Fragen beantwortet haͤtte, ſo be-
ſtuͤrmt war ich von den Trieben der Freund-
ſchaft und der Freude. Jch reichte ihm ein
halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht,
und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Mos-
kau damit tractiret hatte. Wir wurden nach
und nach unſer maͤchtig. Wir hatten einan-
der ſo viel zu erzaͤhlen, daß wir nicht wußten,
wo wir anfangen ſollten. Unter dieſen Un-
terredungen verſtrichen ganze Tage und Naͤch-
te und eben ſo viele unter den Wiederholun-
gen unſerer Begebenheiten. Steeley hatte
in ſeinem Elende weit mehr erlitten, als ich.
Ohne Mitleiden, ohne Freund war er die
ganze Zeit ein Sclave, und was noch mehr iſt,
ein Gefaͤhrte des boshaften Mitgefangnen, des
Knees Eskin, geweſen. Dieſes Ungeheuer
hatte ihm ſeine Huͤtte des Abends zur Hoͤlle ge-
macht, wenn er den Tag uͤber die Laſt der
Sclaverey uͤberſtanden. Von tauſend nie-
dertraͤchtigen Streichen, vor welchen die Na-
tur erſchrickt, will ich nur einen erzaͤhlen.
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