Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Leben der Schwedischen
der unter den Diensten ist, die man uns aus
Gehorsam und Hoffnung erzeigt, und unter
denen, die man dem andern aus einem gehei-
men Triebe der Freundschaft und des Mitlei-
dens erweiset. Jhre Begierde zu dienen
wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie-
mals sinnreich in Anschlägen, noch geübt in
Gefälligkeiten gewesen waren, wurden sorg-
fältig, und sinnreich an Mitteln, mir das Le-
ben zu erhalten, weil sie es gern erhalten wis-
sen wollten. Dieses ist die einzige Krankheit
gewesen, die mir auf dem Wege nach Rußland
zugestoßen. Vor sechs Wochen sind wir hier
in der Stadt Moskau angekommen und die er-
sten gefangnen Schweden in diesem Kriege ge-
wesen, an denen die wilden Einwohner dieses
Orts ihre rachsüchtigen Augen befriedigt
haben. Wir mochten unser wohl drey bis
vier hundert seyn, die man in einem sehr trau-
rigen Aufzuge dem Pöbel einen halben Tag lang
öffentlich darstellte. Er würde uns mit Freu-
den umgebracht haben, wenn wir nicht von
einer starken Wache umgeben gewesen wären.
Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen
Platze gestanden und tausend Schimpfreden,
die wir aus den Geberden unsrer Feinde erra-
then konnten, angehört hatten, drängte sich
eine alte Frau zu einem Russen, der mit uns

an-

Leben der Schwediſchen
der unter den Dienſten iſt, die man uns aus
Gehorſam und Hoffnung erzeigt, und unter
denen, die man dem andern aus einem gehei-
men Triebe der Freundſchaft und des Mitlei-
dens erweiſet. Jhre Begierde zu dienen
wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie-
mals ſinnreich in Anſchlaͤgen, noch geuͤbt in
Gefaͤlligkeiten geweſen waren, wurden ſorg-
faͤltig, und ſinnreich an Mitteln, mir das Le-
ben zu erhalten, weil ſie es gern erhalten wiſ-
ſen wollten. Dieſes iſt die einzige Krankheit
geweſen, die mir auf dem Wege nach Rußland
zugeſtoßen. Vor ſechs Wochen ſind wir hier
in der Stadt Moskau angekommen und die er-
ſten gefangnen Schweden in dieſem Kriege ge-
weſen, an denen die wilden Einwohner dieſes
Orts ihre rachſuͤchtigen Augen befriedigt
haben. Wir mochten unſer wohl drey bis
vier hundert ſeyn, die man in einem ſehr trau-
rigen Aufzuge dem Poͤbel einen halben Tag lang
oͤffentlich darſtellte. Er wuͤrde uns mit Freu-
den umgebracht haben, wenn wir nicht von
einer ſtarken Wache umgeben geweſen waͤren.
Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen
Platze geſtanden und tauſend Schimpfreden,
die wir aus den Geberden unſrer Feinde erra-
then konnten, angehoͤrt hatten, draͤngte ſich
eine alte Frau zu einem Ruſſen, der mit uns

an-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0010" n="10"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Leben der Schwedi&#x017F;chen</hi></fw><lb/>
der unter den Dien&#x017F;ten i&#x017F;t, die man uns aus<lb/>
Gehor&#x017F;am und Hoffnung erzeigt, und unter<lb/>
denen, die man dem andern aus einem gehei-<lb/>
men Triebe der Freund&#x017F;chaft und des Mitlei-<lb/>
dens erwei&#x017F;et. Jhre Begierde zu dienen<lb/>
wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie-<lb/>
mals &#x017F;innreich in An&#x017F;chla&#x0364;gen, noch geu&#x0364;bt in<lb/>
Gefa&#x0364;lligkeiten gewe&#x017F;en waren, wurden &#x017F;org-<lb/>
fa&#x0364;ltig, und &#x017F;innreich an Mitteln, mir das Le-<lb/>
ben zu erhalten, weil &#x017F;ie es gern erhalten wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en wollten. Die&#x017F;es i&#x017F;t die einzige Krankheit<lb/>
gewe&#x017F;en, die mir auf dem Wege nach Rußland<lb/>
zuge&#x017F;toßen. Vor &#x017F;echs Wochen &#x017F;ind wir hier<lb/>
in der Stadt Moskau angekommen und die er-<lb/>
&#x017F;ten gefangnen Schweden in die&#x017F;em Kriege ge-<lb/>
we&#x017F;en, an denen die wilden Einwohner die&#x017F;es<lb/>
Orts ihre rach&#x017F;u&#x0364;chtigen Augen befriedigt<lb/>
haben. Wir mochten un&#x017F;er wohl drey bis<lb/>
vier hundert &#x017F;eyn, die man in einem &#x017F;ehr trau-<lb/>
rigen Aufzuge dem Po&#x0364;bel einen halben Tag lang<lb/>
o&#x0364;ffentlich dar&#x017F;tellte. Er wu&#x0364;rde uns mit Freu-<lb/>
den umgebracht haben, wenn wir nicht von<lb/>
einer &#x017F;tarken Wache umgeben gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren.<lb/>
Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen<lb/>
Platze ge&#x017F;tanden und tau&#x017F;end Schimpfreden,<lb/>
die wir aus den Geberden un&#x017F;rer Feinde erra-<lb/>
then konnten, angeho&#x0364;rt hatten, dra&#x0364;ngte &#x017F;ich<lb/>
eine alte Frau zu einem Ru&#x017F;&#x017F;en, der mit uns<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">an-</fw><lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0010] Leben der Schwediſchen der unter den Dienſten iſt, die man uns aus Gehorſam und Hoffnung erzeigt, und unter denen, die man dem andern aus einem gehei- men Triebe der Freundſchaft und des Mitlei- dens erweiſet. Jhre Begierde zu dienen wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie- mals ſinnreich in Anſchlaͤgen, noch geuͤbt in Gefaͤlligkeiten geweſen waren, wurden ſorg- faͤltig, und ſinnreich an Mitteln, mir das Le- ben zu erhalten, weil ſie es gern erhalten wiſ- ſen wollten. Dieſes iſt die einzige Krankheit geweſen, die mir auf dem Wege nach Rußland zugeſtoßen. Vor ſechs Wochen ſind wir hier in der Stadt Moskau angekommen und die er- ſten gefangnen Schweden in dieſem Kriege ge- weſen, an denen die wilden Einwohner dieſes Orts ihre rachſuͤchtigen Augen befriedigt haben. Wir mochten unſer wohl drey bis vier hundert ſeyn, die man in einem ſehr trau- rigen Aufzuge dem Poͤbel einen halben Tag lang oͤffentlich darſtellte. Er wuͤrde uns mit Freu- den umgebracht haben, wenn wir nicht von einer ſtarken Wache umgeben geweſen waͤren. Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen Platze geſtanden und tauſend Schimpfreden, die wir aus den Geberden unſrer Feinde erra- then konnten, angehoͤrt hatten, draͤngte ſich eine alte Frau zu einem Ruſſen, der mit uns an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/10
Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/10>, abgerufen am 24.11.2024.