Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


Da sich z. B. beym Stoße vollkommen harter Körper die Geschwindigkeit im Augenblicke des Stoßes plötzlich ändern muß (s. Stoß der Körper), so ist dieses für einige Mathematiker, z. B. Johann Bernoulli und Euler, hinreichend gewesen, die Möglichkeit aller vollkommen harten Körper an sich zu läugnen. Daß es unter den bekannten zusammengesetzten Körpern keine vollkommen harten giebt, lehrt auch die Erfahrung; inzwischen müssen doch die Atomen, oder ersten Theile der Materie, wenn es dergleichen giebt, vollkommen hart gedacht werden, s. Hart. Sind also vollkommen harte Körper an sich unmöglich, so kan es auch keine Atomen geben, und die Materie muß ins Unendliche theilbar seyn. So hat Euler geschlossen, und wenn das Gesetz der Stetigkeit in völliger Schärfe und Allgemeinheit erwiesen wäre, so müßte man entweder diesen ganzen Schluß zugeben, oder mit Boscowich (De viribus vivis, in Comm. Bononiens. To. II. Part. II.) annehmen, der Stoß der Körper geschehe gar nicht durch Berührung und Undurchdringlichkeit, sondern durch anziehende und repellirende Kräfte, welche die Geschwindigkeiten der Körper während ihrer Annäherung allmählig änderten, etwa wie bey der Brechung des Lichts die Richtung der Stralen nicht plötzlich in der brechenden Fläche selbst, sondern durch die Anziehung der Mittel allmählig geändert wird.

Aber ist denn wohl das Gesetz der Stetigkeit in solcher Strenge und Allgemeinheit als wahr erwiesen? Was die Stetigkeit im Gleichzeitigen (in simultaneis) betrift, so ist ganz unläugbar, daß die Materie den geometrischen Raum nur auszufüllen scheint, keinesweges aber wirklich mit Stetigkeit erfüllt. Eben dadurch wird die Möglichkeit von Atomen begreiflich, s. Ausdehnung (Th. I. S. 202. 203.). Die Stetigkeit im Successiven könnte wohl auch nur Schein seyn, und in diesem Falle würde Eulers ganzes Argument wider die Atomen wegfallen; denn man würde das Gesetz der Stetigkeit nur da anwenden dürfen, wo die Erfahrung zeigt, daß es mit den Phänomenen übereinstimmt. Und so verhält sich die Sache in der That; denn am Ende ist ja alles, was uns die Sinne von der Körperwelt


Da ſich z. B. beym Stoße vollkommen harter Koͤrper die Geſchwindigkeit im Augenblicke des Stoßes ploͤtzlich aͤndern muß (ſ. Stoß der Koͤrper), ſo iſt dieſes fuͤr einige Mathematiker, z. B. Johann Bernoulli und Euler, hinreichend geweſen, die Moͤglichkeit aller vollkommen harten Koͤrper an ſich zu laͤugnen. Daß es unter den bekannten zuſammengeſetzten Koͤrpern keine vollkommen harten giebt, lehrt auch die Erfahrung; inzwiſchen muͤſſen doch die Atomen, oder erſten Theile der Materie, wenn es dergleichen giebt, vollkommen hart gedacht werden, ſ. Hart. Sind alſo vollkommen harte Koͤrper an ſich unmoͤglich, ſo kan es auch keine Atomen geben, und die Materie muß ins Unendliche theilbar ſeyn. So hat Euler geſchloſſen, und wenn das Geſetz der Stetigkeit in voͤlliger Schaͤrfe und Allgemeinheit erwieſen waͤre, ſo muͤßte man entweder dieſen ganzen Schluß zugeben, oder mit Boſcowich (De viribus vivis, in Comm. Bononienſ. To. II. Part. II.) annehmen, der Stoß der Koͤrper geſchehe gar nicht durch Beruͤhrung und Undurchdringlichkeit, ſondern durch anziehende und repellirende Kraͤfte, welche die Geſchwindigkeiten der Koͤrper waͤhrend ihrer Annaͤherung allmaͤhlig aͤnderten, etwa wie bey der Brechung des Lichts die Richtung der Stralen nicht ploͤtzlich in der brechenden Flaͤche ſelbſt, ſondern durch die Anziehung der Mittel allmaͤhlig geaͤndert wird.

Aber iſt denn wohl das Geſetz der Stetigkeit in ſolcher Strenge und Allgemeinheit als wahr erwieſen? Was die Stetigkeit im Gleichzeitigen (in ſimultaneis) betrift, ſo iſt ganz unlaͤugbar, daß die Materie den geometriſchen Raum nur auszufuͤllen ſcheint, keinesweges aber wirklich mit Stetigkeit erfuͤllt. Eben dadurch wird die Moͤglichkeit von Atomen begreiflich, ſ. Ausdehnung (Th. I. S. 202. 203.). Die Stetigkeit im Succeſſiven koͤnnte wohl auch nur Schein ſeyn, und in dieſem Falle wuͤrde Eulers ganzes Argument wider die Atomen wegfallen; denn man wuͤrde das Geſetz der Stetigkeit nur da anwenden duͤrfen, wo die Erfahrung zeigt, daß es mit den Phaͤnomenen uͤbereinſtimmt. Und ſo verhaͤlt ſich die Sache in der That; denn am Ende iſt ja alles, was uns die Sinne von der Koͤrperwelt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0220" xml:id="P.4.210" n="210"/><lb/>
Da &#x017F;ich z. B. beym Stoße vollkommen harter Ko&#x0364;rper die Ge&#x017F;chwindigkeit im Augenblicke des Stoßes plo&#x0364;tzlich a&#x0364;ndern muß (<hi rendition="#b">&#x017F;. Stoß der Ko&#x0364;rper</hi>), &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;es fu&#x0364;r einige Mathematiker, z. <hi rendition="#b">B. Johann Bernoulli</hi> und <hi rendition="#b">Euler,</hi> hinreichend gewe&#x017F;en, die Mo&#x0364;glichkeit aller vollkommen harten Ko&#x0364;rper an &#x017F;ich zu la&#x0364;ugnen. Daß es unter den bekannten zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Ko&#x0364;rpern keine vollkommen harten giebt, lehrt auch die Erfahrung; inzwi&#x017F;chen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en doch die Atomen, oder er&#x017F;ten Theile der Materie, wenn es dergleichen giebt, vollkommen hart gedacht werden, <hi rendition="#b">&#x017F;. Hart.</hi> Sind al&#x017F;o vollkommen harte Ko&#x0364;rper an &#x017F;ich unmo&#x0364;glich, &#x017F;o kan es auch keine Atomen geben, und die Materie muß ins Unendliche theilbar &#x017F;eyn. So hat <hi rendition="#b">Euler</hi> ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, und wenn das Ge&#x017F;etz der Stetigkeit in vo&#x0364;lliger Scha&#x0364;rfe und Allgemeinheit erwie&#x017F;en wa&#x0364;re, &#x017F;o mu&#x0364;ßte man entweder die&#x017F;en ganzen Schluß zugeben, oder mit <hi rendition="#b">Bo&#x017F;cowich</hi> (<hi rendition="#aq">De viribus vivis, in Comm. Bononien&#x017F;. To. II. Part. II.</hi>) annehmen, der Stoß der Ko&#x0364;rper ge&#x017F;chehe gar nicht durch Beru&#x0364;hrung und Undurchdringlichkeit, &#x017F;ondern durch anziehende und repellirende Kra&#x0364;fte, welche die Ge&#x017F;chwindigkeiten der Ko&#x0364;rper wa&#x0364;hrend ihrer Anna&#x0364;herung allma&#x0364;hlig a&#x0364;nderten, etwa wie bey der Brechung des Lichts die Richtung der Stralen nicht plo&#x0364;tzlich in der brechenden Fla&#x0364;che &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ondern durch die Anziehung der Mittel allma&#x0364;hlig gea&#x0364;ndert wird.</p>
            <p>Aber i&#x017F;t denn wohl das Ge&#x017F;etz der Stetigkeit in &#x017F;olcher Strenge und Allgemeinheit als wahr erwie&#x017F;en? Was die Stetigkeit im Gleichzeitigen (<hi rendition="#aq">in &#x017F;imultaneis</hi>) betrift, &#x017F;o i&#x017F;t ganz unla&#x0364;ugbar, daß die Materie den geometri&#x017F;chen Raum nur auszufu&#x0364;llen <hi rendition="#b">&#x017F;cheint,</hi> keinesweges aber wirklich mit Stetigkeit erfu&#x0364;llt. Eben dadurch wird die Mo&#x0364;glichkeit von Atomen begreiflich, <hi rendition="#b">&#x017F;. Ausdehnung</hi> (Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 202. 203.). Die Stetigkeit im Succe&#x017F;&#x017F;iven ko&#x0364;nnte wohl auch nur <hi rendition="#b">Schein</hi> &#x017F;eyn, und in die&#x017F;em Falle wu&#x0364;rde <hi rendition="#b">Eulers</hi> ganzes Argument wider die Atomen wegfallen; denn man wu&#x0364;rde das Ge&#x017F;etz der Stetigkeit nur da anwenden du&#x0364;rfen, wo die Erfahrung zeigt, daß es mit den Pha&#x0364;nomenen u&#x0364;berein&#x017F;timmt. Und &#x017F;o verha&#x0364;lt &#x017F;ich die Sache in der That; denn am Ende i&#x017F;t ja alles, was uns die Sinne von der Ko&#x0364;rperwelt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0220] Da ſich z. B. beym Stoße vollkommen harter Koͤrper die Geſchwindigkeit im Augenblicke des Stoßes ploͤtzlich aͤndern muß (ſ. Stoß der Koͤrper), ſo iſt dieſes fuͤr einige Mathematiker, z. B. Johann Bernoulli und Euler, hinreichend geweſen, die Moͤglichkeit aller vollkommen harten Koͤrper an ſich zu laͤugnen. Daß es unter den bekannten zuſammengeſetzten Koͤrpern keine vollkommen harten giebt, lehrt auch die Erfahrung; inzwiſchen muͤſſen doch die Atomen, oder erſten Theile der Materie, wenn es dergleichen giebt, vollkommen hart gedacht werden, ſ. Hart. Sind alſo vollkommen harte Koͤrper an ſich unmoͤglich, ſo kan es auch keine Atomen geben, und die Materie muß ins Unendliche theilbar ſeyn. So hat Euler geſchloſſen, und wenn das Geſetz der Stetigkeit in voͤlliger Schaͤrfe und Allgemeinheit erwieſen waͤre, ſo muͤßte man entweder dieſen ganzen Schluß zugeben, oder mit Boſcowich (De viribus vivis, in Comm. Bononienſ. To. II. Part. II.) annehmen, der Stoß der Koͤrper geſchehe gar nicht durch Beruͤhrung und Undurchdringlichkeit, ſondern durch anziehende und repellirende Kraͤfte, welche die Geſchwindigkeiten der Koͤrper waͤhrend ihrer Annaͤherung allmaͤhlig aͤnderten, etwa wie bey der Brechung des Lichts die Richtung der Stralen nicht ploͤtzlich in der brechenden Flaͤche ſelbſt, ſondern durch die Anziehung der Mittel allmaͤhlig geaͤndert wird. Aber iſt denn wohl das Geſetz der Stetigkeit in ſolcher Strenge und Allgemeinheit als wahr erwieſen? Was die Stetigkeit im Gleichzeitigen (in ſimultaneis) betrift, ſo iſt ganz unlaͤugbar, daß die Materie den geometriſchen Raum nur auszufuͤllen ſcheint, keinesweges aber wirklich mit Stetigkeit erfuͤllt. Eben dadurch wird die Moͤglichkeit von Atomen begreiflich, ſ. Ausdehnung (Th. I. S. 202. 203.). Die Stetigkeit im Succeſſiven koͤnnte wohl auch nur Schein ſeyn, und in dieſem Falle wuͤrde Eulers ganzes Argument wider die Atomen wegfallen; denn man wuͤrde das Geſetz der Stetigkeit nur da anwenden duͤrfen, wo die Erfahrung zeigt, daß es mit den Phaͤnomenen uͤbereinſtimmt. Und ſo verhaͤlt ſich die Sache in der That; denn am Ende iſt ja alles, was uns die Sinne von der Koͤrperwelt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/220
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/220>, abgerufen am 27.04.2024.