Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


lehren können, nur sinnlicher Schein, s. Phänomene.

In unzählbaren Fällen sehen wir freylich die Veränderungen, die die Natur hervorbringt, allmählig und ohne plötzliche Sprünge erfolgen. Der bewegte Körper wird nicht plötzlich aus A nach B versetzt, sondern muß eine ganze zusammenhängende Reihe von Stellen durchlaufen, welche zwischen A und B liegen; der fallende Körper erhält seine letzte Geschwindigkeit nicht auf einmal, sondern muß vorher durch alle mögliche geringere Grade der Geschwindigkeit durchgehen; der von Centralkräften getriebene Körper bricht seinen Weg nicht eckicht ab, sondern ändert seine Richtung mit stetiger Krümmung; das Thermometer springt nicht vom Eispunkte zum Siedpunkte, ohne alle dazwischen fallende Grade zu durchlaufen, u. s. w. Dies geht so weit, daß nach Herrn Kästners Bemerkung selbst der Dichter der Verwandlungen die Wahrscheinlichkeit beleidigen würde, wenn er seine Daphne und Niobe nicht allmählig in Bäume oder Felsen übergehend (arborescentem et lapidescentem) schilderte, und daß plötzliche Umschaffungen von Menschen in Thiere oder Steine nur für die Zauberer der Feenmährchen und chinesischen Schatten schicklich sind.

Wo nun in einer Reihe nach einander folgender Zustände kein Sprung durch bestimmte Stufen wahrgenommen wird, da ist es nicht allein verstattet, sondern sogar nothwendig, das Gesetz der Stetigkeit anzunehmen, und die Berechnungen und Schlüsse dem gemäß einzurichten, z. B. bey der Beschleunigung des Falles durch die Schwere, bey Bestimmung des Weges geworfener oder durch Centralkräfte getriebener Körper u. dergl. Hierauf beruhen alle Anwendungen der Infinitesimalrechnung auf diese Fälle, deren Resultate so schön mit der Erfahrung übereinstimmen, s. Bewegung (Th. I. S. 333, 334.), Schwere (Th. III. S. 901.). Wollte man nemlich die Schwere stoßweise mit dazwischen fallenden Pausen wirken lassen, so würde alle Möglichkeit der Berechnung aufhören, weil Niemand sagen könnte, wie stark die Stöße sind und wie lang die Pausen dauern. Inzwischen wird ein vorsichtiger


lehren koͤnnen, nur ſinnlicher Schein, ſ. Phaͤnomene.

In unzaͤhlbaren Faͤllen ſehen wir freylich die Veraͤnderungen, die die Natur hervorbringt, allmaͤhlig und ohne ploͤtzliche Spruͤnge erfolgen. Der bewegte Koͤrper wird nicht ploͤtzlich aus A nach B verſetzt, ſondern muß eine ganze zuſammenhaͤngende Reihe von Stellen durchlaufen, welche zwiſchen A und B liegen; der fallende Koͤrper erhaͤlt ſeine letzte Geſchwindigkeit nicht auf einmal, ſondern muß vorher durch alle moͤgliche geringere Grade der Geſchwindigkeit durchgehen; der von Centralkraͤften getriebene Koͤrper bricht ſeinen Weg nicht eckicht ab, ſondern aͤndert ſeine Richtung mit ſtetiger Kruͤmmung; das Thermometer ſpringt nicht vom Eispunkte zum Siedpunkte, ohne alle dazwiſchen fallende Grade zu durchlaufen, u. ſ. w. Dies geht ſo weit, daß nach Herrn Kaͤſtners Bemerkung ſelbſt der Dichter der Verwandlungen die Wahrſcheinlichkeit beleidigen wuͤrde, wenn er ſeine Daphne und Niobe nicht allmaͤhlig in Baͤume oder Felſen uͤbergehend (arboreſcentem et lapideſcentem) ſchilderte, und daß ploͤtzliche Umſchaffungen von Menſchen in Thiere oder Steine nur fuͤr die Zauberer der Feenmaͤhrchen und chineſiſchen Schatten ſchicklich ſind.

Wo nun in einer Reihe nach einander folgender Zuſtaͤnde kein Sprung durch beſtimmte Stufen wahrgenommen wird, da iſt es nicht allein verſtattet, ſondern ſogar nothwendig, das Geſetz der Stetigkeit anzunehmen, und die Berechnungen und Schluͤſſe dem gemaͤß einzurichten, z. B. bey der Beſchleunigung des Falles durch die Schwere, bey Beſtimmung des Weges geworfener oder durch Centralkraͤfte getriebener Koͤrper u. dergl. Hierauf beruhen alle Anwendungen der Infiniteſimalrechnung auf dieſe Faͤlle, deren Reſultate ſo ſchoͤn mit der Erfahrung uͤbereinſtimmen, ſ. Bewegung (Th. I. S. 333, 334.), Schwere (Th. III. S. 901.). Wollte man nemlich die Schwere ſtoßweiſe mit dazwiſchen fallenden Pauſen wirken laſſen, ſo wuͤrde alle Moͤglichkeit der Berechnung aufhoͤren, weil Niemand ſagen koͤnnte, wie ſtark die Stoͤße ſind und wie lang die Pauſen dauern. Inzwiſchen wird ein vorſichtiger

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0221" xml:id="P.4.211" n="211"/><lb/>
lehren ko&#x0364;nnen, nur <hi rendition="#b">&#x017F;innlicher Schein, &#x017F;. Pha&#x0364;nomene.</hi></p>
            <p>In unza&#x0364;hlbaren Fa&#x0364;llen &#x017F;ehen wir freylich die Vera&#x0364;nderungen, die die Natur hervorbringt, allma&#x0364;hlig und ohne plo&#x0364;tzliche Spru&#x0364;nge erfolgen. Der bewegte Ko&#x0364;rper wird nicht plo&#x0364;tzlich aus <hi rendition="#aq">A</hi> nach <hi rendition="#aq">B</hi> ver&#x017F;etzt, &#x017F;ondern muß eine ganze zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngende Reihe von Stellen durchlaufen, welche zwi&#x017F;chen <hi rendition="#aq">A</hi> und <hi rendition="#aq">B</hi> liegen; der fallende Ko&#x0364;rper erha&#x0364;lt &#x017F;eine letzte Ge&#x017F;chwindigkeit nicht auf einmal, &#x017F;ondern muß vorher durch alle mo&#x0364;gliche geringere Grade der Ge&#x017F;chwindigkeit durchgehen; der von Centralkra&#x0364;ften getriebene Ko&#x0364;rper bricht &#x017F;einen Weg nicht eckicht ab, &#x017F;ondern a&#x0364;ndert &#x017F;eine Richtung mit &#x017F;tetiger Kru&#x0364;mmung; das Thermometer &#x017F;pringt nicht vom Eispunkte zum Siedpunkte, ohne alle dazwi&#x017F;chen fallende Grade zu durchlaufen, u. &#x017F;. w. Dies geht &#x017F;o weit, daß nach Herrn <hi rendition="#b">Ka&#x0364;&#x017F;tners</hi> Bemerkung &#x017F;elb&#x017F;t der Dichter der Verwandlungen die Wahr&#x017F;cheinlichkeit beleidigen wu&#x0364;rde, wenn er &#x017F;eine Daphne und Niobe nicht allma&#x0364;hlig in Ba&#x0364;ume oder Fel&#x017F;en u&#x0364;bergehend (<hi rendition="#aq">arbore&#x017F;centem et lapide&#x017F;centem</hi>) &#x017F;childerte, und daß plo&#x0364;tzliche Um&#x017F;chaffungen von Men&#x017F;chen in Thiere oder Steine nur fu&#x0364;r die Zauberer der Feenma&#x0364;hrchen und chine&#x017F;i&#x017F;chen Schatten &#x017F;chicklich &#x017F;ind.</p>
            <p>Wo nun in einer Reihe nach einander folgender Zu&#x017F;ta&#x0364;nde kein Sprung durch be&#x017F;timmte Stufen wahrgenommen wird, da i&#x017F;t es nicht allein ver&#x017F;tattet, &#x017F;ondern &#x017F;ogar nothwendig, das Ge&#x017F;etz der Stetigkeit anzunehmen, und die Berechnungen und Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e dem gema&#x0364;ß einzurichten, z. B. bey der Be&#x017F;chleunigung des Falles durch die Schwere, bey Be&#x017F;timmung des Weges geworfener oder durch Centralkra&#x0364;fte getriebener Ko&#x0364;rper u. dergl. Hierauf beruhen alle Anwendungen der Infinite&#x017F;imalrechnung auf die&#x017F;e Fa&#x0364;lle, deren Re&#x017F;ultate &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n mit der Erfahrung u&#x0364;berein&#x017F;timmen, <hi rendition="#b">&#x017F;. Bewegung</hi> (Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 333, 334.), <hi rendition="#b">Schwere</hi> (Th. <hi rendition="#aq">III.</hi> S. 901.). Wollte man nemlich die Schwere &#x017F;toßwei&#x017F;e mit dazwi&#x017F;chen fallenden Pau&#x017F;en wirken la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o wu&#x0364;rde alle Mo&#x0364;glichkeit der Berechnung aufho&#x0364;ren, weil Niemand &#x017F;agen ko&#x0364;nnte, wie &#x017F;tark die Sto&#x0364;ße &#x017F;ind und wie lang die Pau&#x017F;en dauern. Inzwi&#x017F;chen wird ein vor&#x017F;ichtiger<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0221] lehren koͤnnen, nur ſinnlicher Schein, ſ. Phaͤnomene. In unzaͤhlbaren Faͤllen ſehen wir freylich die Veraͤnderungen, die die Natur hervorbringt, allmaͤhlig und ohne ploͤtzliche Spruͤnge erfolgen. Der bewegte Koͤrper wird nicht ploͤtzlich aus A nach B verſetzt, ſondern muß eine ganze zuſammenhaͤngende Reihe von Stellen durchlaufen, welche zwiſchen A und B liegen; der fallende Koͤrper erhaͤlt ſeine letzte Geſchwindigkeit nicht auf einmal, ſondern muß vorher durch alle moͤgliche geringere Grade der Geſchwindigkeit durchgehen; der von Centralkraͤften getriebene Koͤrper bricht ſeinen Weg nicht eckicht ab, ſondern aͤndert ſeine Richtung mit ſtetiger Kruͤmmung; das Thermometer ſpringt nicht vom Eispunkte zum Siedpunkte, ohne alle dazwiſchen fallende Grade zu durchlaufen, u. ſ. w. Dies geht ſo weit, daß nach Herrn Kaͤſtners Bemerkung ſelbſt der Dichter der Verwandlungen die Wahrſcheinlichkeit beleidigen wuͤrde, wenn er ſeine Daphne und Niobe nicht allmaͤhlig in Baͤume oder Felſen uͤbergehend (arboreſcentem et lapideſcentem) ſchilderte, und daß ploͤtzliche Umſchaffungen von Menſchen in Thiere oder Steine nur fuͤr die Zauberer der Feenmaͤhrchen und chineſiſchen Schatten ſchicklich ſind. Wo nun in einer Reihe nach einander folgender Zuſtaͤnde kein Sprung durch beſtimmte Stufen wahrgenommen wird, da iſt es nicht allein verſtattet, ſondern ſogar nothwendig, das Geſetz der Stetigkeit anzunehmen, und die Berechnungen und Schluͤſſe dem gemaͤß einzurichten, z. B. bey der Beſchleunigung des Falles durch die Schwere, bey Beſtimmung des Weges geworfener oder durch Centralkraͤfte getriebener Koͤrper u. dergl. Hierauf beruhen alle Anwendungen der Infiniteſimalrechnung auf dieſe Faͤlle, deren Reſultate ſo ſchoͤn mit der Erfahrung uͤbereinſtimmen, ſ. Bewegung (Th. I. S. 333, 334.), Schwere (Th. III. S. 901.). Wollte man nemlich die Schwere ſtoßweiſe mit dazwiſchen fallenden Pauſen wirken laſſen, ſo wuͤrde alle Moͤglichkeit der Berechnung aufhoͤren, weil Niemand ſagen koͤnnte, wie ſtark die Stoͤße ſind und wie lang die Pauſen dauern. Inzwiſchen wird ein vorſichtiger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/221
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/221>, abgerufen am 28.04.2024.