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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

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Leibnitz
seinen Satz des zureichenden Grundes aus diesen Büchern des Archimedes entlehnt habe.

Es ist aber dieser archimedeische Beweis, wie schon Barrow bemerkt, darum unzulänglich, weil dabey unerwiesen angenommen wird, der Schwerpunkt bleibe einerley, man möge Körper verbinden oder trennen. Daher suchte Descartes (Tract. de Mechanica, in Opusc. posth. Amstel. 1701. 4.) die ganze Statik aus dem neuen Grundsatze herzuleiten, daß das wahre Vermögen einer bewegenden Kraft dem Produkte der bewegten Masse in ihre Geschwindigkeit gleich sey. Bewegt sich nemlich der Hebel ACB, Taf. X. Fig. 54. mit den Körpern A und B um den Ruhepunkt C bis in die Lage aCb, so verhalten sich die bewegten Massen, wie A:B, die Geschwindigkeiten, wie die in gleicher Zeit von ihnen durchlaufenen Räume oder Bogen Aa und Bb. Diese Bogen aber, als ähnliche, welche die beyden gleichen Winkel ACa und BCb messen, verhalten sich wie ihre Halbmesser CA und CB, daher CA:CB das Verhältniß der Geschwindigkeiten ist. Also sind nach dem Satze des Descartes die Kräfte, mit denen sich A und B bewegen, wie AXCA:BXCB. Ist nun A:B=CB:CA, so folgt oder die bewegenden Kräfte sind einander gleich, suchen aber den Hebel auf entgegengesetzte Seiten zu drehen, daher er nach dem allgemeinen Satze des Gleichgewichts in Ruhe bleiben muß. Dieser allerdings sehr scharfsinnige Beweis, der eigentlich darauf beruht, daß es gleichen Aufwand von Kraft erfordert, 1 Pfund 2 Schuh hoch, und 2 Pfund in gleicher Zeit 1 Schuh hoch zu heben u. s. w. bleibt doch den Einwendungen ausgesetzt, daß das cartesianische Maaß der bewegenden Kräfte für einen Grundsatz nicht Evidenz genug hat, und daß im Gleichgewichte, wo der Hebel still steht, gar keine Geschwindigkeit betrachtet werden kan. Wenn gleich auf letzteres die Cartesianer antworten, es sey doch beym Gleichgewichte Kraft, oder Streben nach Bewegung mit einer gewissen Geschwindigkeit (sollicitatio ad motum, velocitas virtualis) vorhanden, die man in


Leibnitz
ſeinen Satz des zureichenden Grundes aus dieſen Buͤchern des Archimedes entlehnt habe.

Es iſt aber dieſer archimedeiſche Beweis, wie ſchon Barrow bemerkt, darum unzulaͤnglich, weil dabey unerwieſen angenommen wird, der Schwerpunkt bleibe einerley, man moͤge Koͤrper verbinden oder trennen. Daher ſuchte Descartes (Tract. de Mechanica, in Opuſc. poſth. Amſtel. 1701. 4.) die ganze Statik aus dem neuen Grundſatze herzuleiten, daß das wahre Vermoͤgen einer bewegenden Kraft dem Produkte der bewegten Maſſe in ihre Geſchwindigkeit gleich ſey. Bewegt ſich nemlich der Hebel ACB, Taf. X. Fig. 54. mit den Koͤrpern A und B um den Ruhepunkt C bis in die Lage aCb, ſo verhalten ſich die bewegten Maſſen, wie A:B, die Geſchwindigkeiten, wie die in gleicher Zeit von ihnen durchlaufenen Raͤume oder Bogen Aa und Bb. Dieſe Bogen aber, als aͤhnliche, welche die beyden gleichen Winkel ACa und BCb meſſen, verhalten ſich wie ihre Halbmeſſer CA und CB, daher CA:CB das Verhaͤltniß der Geſchwindigkeiten iſt. Alſo ſind nach dem Satze des Descartes die Kraͤfte, mit denen ſich A und B bewegen, wie AXCA:BXCB. Iſt nun A:B=CB:CA, ſo folgt oder die bewegenden Kraͤfte ſind einander gleich, ſuchen aber den Hebel auf entgegengeſetzte Seiten zu drehen, daher er nach dem allgemeinen Satze des Gleichgewichts in Ruhe bleiben muß. Dieſer allerdings ſehr ſcharfſinnige Beweis, der eigentlich darauf beruht, daß es gleichen Aufwand von Kraft erfordert, 1 Pfund 2 Schuh hoch, und 2 Pfund in gleicher Zeit 1 Schuh hoch zu heben u. ſ. w. bleibt doch den Einwendungen ausgeſetzt, daß das carteſianiſche Maaß der bewegenden Kraͤfte fuͤr einen Grundſatz nicht Evidenz genug hat, und daß im Gleichgewichte, wo der Hebel ſtill ſteht, gar keine Geſchwindigkeit betrachtet werden kan. Wenn gleich auf letzteres die Carteſianer antworten, es ſey doch beym Gleichgewichte Kraft, oder Streben nach Bewegung mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit (ſollicitatio ad motum, velocitas virtualis) vorhanden, die man in

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[567/0573] Leibnitz ſeinen Satz des zureichenden Grundes aus dieſen Buͤchern des Archimedes entlehnt habe. Es iſt aber dieſer archimedeiſche Beweis, wie ſchon Barrow bemerkt, darum unzulaͤnglich, weil dabey unerwieſen angenommen wird, der Schwerpunkt bleibe einerley, man moͤge Koͤrper verbinden oder trennen. Daher ſuchte Descartes (Tract. de Mechanica, in Opuſc. poſth. Amſtel. 1701. 4.) die ganze Statik aus dem neuen Grundſatze herzuleiten, daß das wahre Vermoͤgen einer bewegenden Kraft dem Produkte der bewegten Maſſe in ihre Geſchwindigkeit gleich ſey. Bewegt ſich nemlich der Hebel ACB, Taf. X. Fig. 54. mit den Koͤrpern A und B um den Ruhepunkt C bis in die Lage aCb, ſo verhalten ſich die bewegten Maſſen, wie A:B, die Geſchwindigkeiten, wie die in gleicher Zeit von ihnen durchlaufenen Raͤume oder Bogen Aa und Bb. Dieſe Bogen aber, als aͤhnliche, welche die beyden gleichen Winkel ACa und BCb meſſen, verhalten ſich wie ihre Halbmeſſer CA und CB, daher CA:CB das Verhaͤltniß der Geſchwindigkeiten iſt. Alſo ſind nach dem Satze des Descartes die Kraͤfte, mit denen ſich A und B bewegen, wie AXCA:BXCB. Iſt nun A:B=CB:CA, ſo folgt oder die bewegenden Kraͤfte ſind einander gleich, ſuchen aber den Hebel auf entgegengeſetzte Seiten zu drehen, daher er nach dem allgemeinen Satze des Gleichgewichts in Ruhe bleiben muß. Dieſer allerdings ſehr ſcharfſinnige Beweis, der eigentlich darauf beruht, daß es gleichen Aufwand von Kraft erfordert, 1 Pfund 2 Schuh hoch, und 2 Pfund in gleicher Zeit 1 Schuh hoch zu heben u. ſ. w. bleibt doch den Einwendungen ausgeſetzt, daß das carteſianiſche Maaß der bewegenden Kraͤfte fuͤr einen Grundſatz nicht Evidenz genug hat, und daß im Gleichgewichte, wo der Hebel ſtill ſteht, gar keine Geſchwindigkeit betrachtet werden kan. Wenn gleich auf letzteres die Carteſianer antworten, es ſey doch beym Gleichgewichte Kraft, oder Streben nach Bewegung mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit (ſollicitatio ad motum, velocitas virtualis) vorhanden, die man in

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/573>, abgerufen am 15.06.2024.