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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

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Die Römer erlangten, als sich ihre Eroberungen bis an das atlantische Meer erstreckt hatten, genauere Kenntnisse hievon. Cäsar gedenkt der Ebbe und Fluth im vierten Buche seiner Commentarien vom gallischen Kriege, und Strabo führt im dritten Buche die Erscheinungen nach allen drey Perioden ziemlich richtig an, und erklärt sie nach dem Posidonius dadurch, daß das Meer die himmlischen Bewegungen nachahme, in welchen sich drey ähnliche Perioden befänden. Plinius (Hist. nat. L. II. c. 97.) giebt nebst den Erscheinungen auch die Ursachen an. Causa, sagt er, in sole lunaque--moventur aquae ut ancillantes sideri avido, trahentique secum haustu maria. Seneca (Quaest. nat. III. 28.) und Makrobius (Somn. Scip. I. 6.) beschreiben ebenfalls die Bewegungen der See sehr richtig.

Die neuern fiengen nun an, zur Erklärung der Ebbe und Fluth mancherley Hypothesen zu entwerfen. Galilei (Dialog. de Systemate cosmico. Dial. 4.) versuchte, sie aus der doppelten Bewegung der Erde herzuleiten und als ein Beweisgrund für die Wirklichkeit dieser Bewegung zu gebrauchen. Descartes (Princip. Philos. P. IV. prop. 49. sqq.) erklärte sie aus seinen Wirbeln. Der Wirbel der Erde sollte nach seiner Meinung beym Durchgange des Monds durch den Mittagskreis dem Wirbel des Monds begegnen, und beyde sollten dadurch, weil der Raum zwischen beyden Körpern enger würde, in eine schnellere Bewegung gerathen, also auf das Meer drücken, und es nöthigen, gegen die Küsten anzusteigen. Man bemerkt aber, daß auch im freyen ofnen Meere nach dem Durchgange des Monds durch den Mittagskreis das Wasser sich erhebt, und keinesweges niedergedrückt wird; auch erklärt diese auf das nichtige System der Wirbel gebaute Hypothese die zweyte Fluth nicht, welche sich ereignet, wenn der Mond unter dem Horizonte steht. Nicht glücklicher hat Wallis (De aestu maris, Opp. To. II. p. 737. sqq.) die Phänomene der Ebbe und Fluth aus der Bewegung des gemeinschaftlichen Schwerpunkts der Erde und des Monds herzuleiten gesucht.


Die Roͤmer erlangten, als ſich ihre Eroberungen bis an das atlantiſche Meer erſtreckt hatten, genauere Kenntniſſe hievon. Caͤſar gedenkt der Ebbe und Fluth im vierten Buche ſeiner Commentarien vom galliſchen Kriege, und Strabo fuͤhrt im dritten Buche die Erſcheinungen nach allen drey Perioden ziemlich richtig an, und erklaͤrt ſie nach dem Poſidonius dadurch, daß das Meer die himmliſchen Bewegungen nachahme, in welchen ſich drey aͤhnliche Perioden befaͤnden. Plinius (Hiſt. nat. L. II. c. 97.) giebt nebſt den Erſcheinungen auch die Urſachen an. Cauſa, ſagt er, in ſole lunaque—moventur aquae ut ancillantes ſideri avido, trahentique ſecum hauſtu maria. Seneca (Quaeſt. nat. III. 28.) und Makrobius (Somn. Scip. I. 6.) beſchreiben ebenfalls die Bewegungen der See ſehr richtig.

Die neuern fiengen nun an, zur Erklaͤrung der Ebbe und Fluth mancherley Hypotheſen zu entwerfen. Galilei (Dialog. de Syſtemate coſmico. Dial. 4.) verſuchte, ſie aus der doppelten Bewegung der Erde herzuleiten und als ein Beweisgrund fuͤr die Wirklichkeit dieſer Bewegung zu gebrauchen. Descartes (Princip. Philoſ. P. IV. prop. 49. ſqq.) erklaͤrte ſie aus ſeinen Wirbeln. Der Wirbel der Erde ſollte nach ſeiner Meinung beym Durchgange des Monds durch den Mittagskreis dem Wirbel des Monds begegnen, und beyde ſollten dadurch, weil der Raum zwiſchen beyden Koͤrpern enger wuͤrde, in eine ſchnellere Bewegung gerathen, alſo auf das Meer druͤcken, und es noͤthigen, gegen die Kuͤſten anzuſteigen. Man bemerkt aber, daß auch im freyen ofnen Meere nach dem Durchgange des Monds durch den Mittagskreis das Waſſer ſich erhebt, und keinesweges niedergedruͤckt wird; auch erklaͤrt dieſe auf das nichtige Syſtem der Wirbel gebaute Hypotheſe die zweyte Fluth nicht, welche ſich ereignet, wenn der Mond unter dem Horizonte ſteht. Nicht gluͤcklicher hat Wallis (De aeſtu maris, Opp. To. II. p. 737. ſqq.) die Phaͤnomene der Ebbe und Fluth aus der Bewegung des gemeinſchaftlichen Schwerpunkts der Erde und des Monds herzuleiten geſucht.

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[650/0664] Die Roͤmer erlangten, als ſich ihre Eroberungen bis an das atlantiſche Meer erſtreckt hatten, genauere Kenntniſſe hievon. Caͤſar gedenkt der Ebbe und Fluth im vierten Buche ſeiner Commentarien vom galliſchen Kriege, und Strabo fuͤhrt im dritten Buche die Erſcheinungen nach allen drey Perioden ziemlich richtig an, und erklaͤrt ſie nach dem Poſidonius dadurch, daß das Meer die himmliſchen Bewegungen nachahme, in welchen ſich drey aͤhnliche Perioden befaͤnden. Plinius (Hiſt. nat. L. II. c. 97.) giebt nebſt den Erſcheinungen auch die Urſachen an. Cauſa, ſagt er, in ſole lunaque—moventur aquae ut ancillantes ſideri avido, trahentique ſecum hauſtu maria. Seneca (Quaeſt. nat. III. 28.) und Makrobius (Somn. Scip. I. 6.) beſchreiben ebenfalls die Bewegungen der See ſehr richtig. Die neuern fiengen nun an, zur Erklaͤrung der Ebbe und Fluth mancherley Hypotheſen zu entwerfen. Galilei (Dialog. de Syſtemate coſmico. Dial. 4.) verſuchte, ſie aus der doppelten Bewegung der Erde herzuleiten und als ein Beweisgrund fuͤr die Wirklichkeit dieſer Bewegung zu gebrauchen. Descartes (Princip. Philoſ. P. IV. prop. 49. ſqq.) erklaͤrte ſie aus ſeinen Wirbeln. Der Wirbel der Erde ſollte nach ſeiner Meinung beym Durchgange des Monds durch den Mittagskreis dem Wirbel des Monds begegnen, und beyde ſollten dadurch, weil der Raum zwiſchen beyden Koͤrpern enger wuͤrde, in eine ſchnellere Bewegung gerathen, alſo auf das Meer druͤcken, und es noͤthigen, gegen die Kuͤſten anzuſteigen. Man bemerkt aber, daß auch im freyen ofnen Meere nach dem Durchgange des Monds durch den Mittagskreis das Waſſer ſich erhebt, und keinesweges niedergedruͤckt wird; auch erklaͤrt dieſe auf das nichtige Syſtem der Wirbel gebaute Hypotheſe die zweyte Fluth nicht, welche ſich ereignet, wenn der Mond unter dem Horizonte ſteht. Nicht gluͤcklicher hat Wallis (De aeſtu maris, Opp. To. II. p. 737. ſqq.) die Phaͤnomene der Ebbe und Fluth aus der Bewegung des gemeinſchaftlichen Schwerpunkts der Erde und des Monds herzuleiten geſucht.

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/664>, abgerufen am 22.11.2024.