her; die Reue ist der Unmuth eines Geistes über sich selbst. Und so wie in der wirklichen Welt, dieser Unmuth der bitterste Schmerz, und der Stachel beynahe aller andrer Leiden ist, in welche er sich so oft mischt; so ist er auch in der poeti- schen Welt das Hülfsmittel, unsre Theilneh- mung an fremden Leiden stärker und tiefer zu machen.
Was wollen wir denn nun mit allen diesem? wollen wir den Dichter einschränken? wollen wir ihn nöthigen, gerade nur diese und keine andre Begebenheiten zu bearbeiten?
Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir wollen ihm sagen, daß jede Begebenheit man- nichfaltige Eindrücke machen, mannichfaltige Neigungen erregen könne, nach dem Charakter der Person, die er in die Begebenheit setzet; und daß es also immer in seiner Gewalt stehe, Cha- rakter und Begebenheit so gegen einander abzu- messen, daß daraus wichtige und interessante Empfindungen und Leidenschaften entspringen. Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an den
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uͤber das Intereſſirende.
her; die Reue iſt der Unmuth eines Geiſtes uͤber ſich ſelbſt. Und ſo wie in der wirklichen Welt, dieſer Unmuth der bitterſte Schmerz, und der Stachel beynahe aller andrer Leiden iſt, in welche er ſich ſo oft miſcht; ſo iſt er auch in der poeti- ſchen Welt das Huͤlfsmittel, unſre Theilneh- mung an fremden Leiden ſtaͤrker und tiefer zu machen.
Was wollen wir denn nun mit allen dieſem? wollen wir den Dichter einſchraͤnken? wollen wir ihn noͤthigen, gerade nur dieſe und keine andre Begebenheiten zu bearbeiten?
Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir wollen ihm ſagen, daß jede Begebenheit man- nichfaltige Eindruͤcke machen, mannichfaltige Neigungen erregen koͤnne, nach dem Charakter der Perſon, die er in die Begebenheit ſetzet; und daß es alſo immer in ſeiner Gewalt ſtehe, Cha- rakter und Begebenheit ſo gegen einander abzu- meſſen, daß daraus wichtige und intereſſante Empfindungen und Leidenſchaften entſpringen. Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an den
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uͤber das Intereſſirende.
her; die Reue iſt der Unmuth eines Geiſtes uͤber
ſich ſelbſt. Und ſo wie in der wirklichen Welt,
dieſer Unmuth der bitterſte Schmerz, und der
Stachel beynahe aller andrer Leiden iſt, in welche
er ſich ſo oft miſcht; ſo iſt er auch in der poeti-
ſchen Welt das Huͤlfsmittel, unſre Theilneh-
mung an fremden Leiden ſtaͤrker und tiefer zu
machen.
Was wollen wir denn nun mit allen dieſem?
wollen wir den Dichter einſchraͤnken? wollen wir
ihn noͤthigen, gerade nur dieſe und keine andre
Begebenheiten zu bearbeiten?
Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir
wollen ihm ſagen, daß jede Begebenheit man-
nichfaltige Eindruͤcke machen, mannichfaltige
Neigungen erregen koͤnne, nach dem Charakter
der Perſon, die er in die Begebenheit ſetzet; und
daß es alſo immer in ſeiner Gewalt ſtehe, Cha-
rakter und Begebenheit ſo gegen einander abzu-
meſſen, daß daraus wichtige und intereſſante
Empfindungen und Leidenſchaften entſpringen.
Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an den
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/365>, abgerufen am 25.11.2024.
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