Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
von den Dichtern vorzüglich oft ist gebraucht
worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver-
mehren: das ist der Unwille wider sich selbst;
die Reue. Warum ist es rührend, wenn Oros-
mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht
hat, vor ihn soll gebracht werden; warum ist es
so schrecklich, wenn die Mörderin des Königs in
Makbeth, ihre blutigen Hände wäscht, und die
Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau-
be ich, weil sich alsdann zwo der unangenehm-
sten Leidenschaften, die sonst fast immer getrennt
sind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und
Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menschen
veranlaßt, sich mitten im Elende den glücklichen
Zustand lebhaft vorzustellen, in welchem er ohne
seine Vergehung seyn werde, und diese Vorstel-
lung das Rührendste des Elends ist; weil end-
lich unter allen Schmerzen dieser am meisten aus
dem moralischen Theile des Menschen, aus dem
Innersten seines Geistes selbst entspringt. Jeder
andrer Verdruß, jede andre Betrübniß kömmt
vom Körper, oder von Dingen außer uns

Einige Gedanken
von den Dichtern vorzuͤglich oft iſt gebraucht
worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver-
mehren: das iſt der Unwille wider ſich ſelbſt;
die Reue. Warum iſt es ruͤhrend, wenn Oros-
mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht
hat, vor ihn ſoll gebracht werden; warum iſt es
ſo ſchrecklich, wenn die Moͤrderin des Koͤnigs in
Makbeth, ihre blutigen Haͤnde waͤſcht, und die
Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau-
be ich, weil ſich alsdann zwo der unangenehm-
ſten Leidenſchaften, die ſonſt faſt immer getrennt
ſind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und
Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menſchen
veranlaßt, ſich mitten im Elende den gluͤcklichen
Zuſtand lebhaft vorzuſtellen, in welchem er ohne
ſeine Vergehung ſeyn werde, und dieſe Vorſtel-
lung das Ruͤhrendſte des Elends iſt; weil end-
lich unter allen Schmerzen dieſer am meiſten aus
dem moraliſchen Theile des Menſchen, aus dem
Innerſten ſeines Geiſtes ſelbſt entſpringt. Jeder
andrer Verdruß, jede andre Betruͤbniß koͤmmt
vom Koͤrper, oder von Dingen außer uns

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0364" n="358"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
von den Dichtern vorzu&#x0364;glich oft i&#x017F;t gebraucht<lb/>
worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver-<lb/>
mehren: das i&#x017F;t der Unwille wider &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t;<lb/>
die Reue. Warum i&#x017F;t es ru&#x0364;hrend, wenn Oros-<lb/>
mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht<lb/>
hat, vor ihn &#x017F;oll gebracht werden; warum i&#x017F;t es<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chrecklich, wenn die Mo&#x0364;rderin des Ko&#x0364;nigs in<lb/>
Makbeth, ihre blutigen Ha&#x0364;nde wa&#x0364;&#x017F;cht, und die<lb/>
Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau-<lb/>
be ich, weil &#x017F;ich alsdann zwo der unangenehm-<lb/>
&#x017F;ten Leiden&#x017F;chaften, die &#x017F;on&#x017F;t fa&#x017F;t immer getrennt<lb/>
&#x017F;ind, mit einander vereinigen, <hi rendition="#fr">Traurigkeit</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Zorn;</hi> weil die Reue gemeiniglich den Men&#x017F;chen<lb/>
veranlaßt, &#x017F;ich mitten im Elende den glu&#x0364;cklichen<lb/>
Zu&#x017F;tand lebhaft vorzu&#x017F;tellen, in welchem er ohne<lb/>
&#x017F;eine Vergehung &#x017F;eyn werde, und die&#x017F;e Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung das Ru&#x0364;hrend&#x017F;te des Elends i&#x017F;t; weil end-<lb/>
lich unter allen Schmerzen die&#x017F;er am mei&#x017F;ten aus<lb/>
dem morali&#x017F;chen Theile des Men&#x017F;chen, aus dem<lb/>
Inner&#x017F;ten &#x017F;eines Gei&#x017F;tes &#x017F;elb&#x017F;t ent&#x017F;pringt. Jeder<lb/>
andrer Verdruß, jede andre Betru&#x0364;bniß ko&#x0364;mmt<lb/>
vom Ko&#x0364;rper, oder von Dingen außer uns<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[358/0364] Einige Gedanken von den Dichtern vorzuͤglich oft iſt gebraucht worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver- mehren: das iſt der Unwille wider ſich ſelbſt; die Reue. Warum iſt es ruͤhrend, wenn Oros- mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht hat, vor ihn ſoll gebracht werden; warum iſt es ſo ſchrecklich, wenn die Moͤrderin des Koͤnigs in Makbeth, ihre blutigen Haͤnde waͤſcht, und die Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau- be ich, weil ſich alsdann zwo der unangenehm- ſten Leidenſchaften, die ſonſt faſt immer getrennt ſind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menſchen veranlaßt, ſich mitten im Elende den gluͤcklichen Zuſtand lebhaft vorzuſtellen, in welchem er ohne ſeine Vergehung ſeyn werde, und dieſe Vorſtel- lung das Ruͤhrendſte des Elends iſt; weil end- lich unter allen Schmerzen dieſer am meiſten aus dem moraliſchen Theile des Menſchen, aus dem Innerſten ſeines Geiſtes ſelbſt entſpringt. Jeder andrer Verdruß, jede andre Betruͤbniß koͤmmt vom Koͤrper, oder von Dingen außer uns

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/364
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/364>, abgerufen am 25.11.2024.