Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sicht zuzukehren, das Zimmer. Sie frug verwundert die Wärterin, die am andern Fenster stand, was unten im Hofe vorgehe? O das Reitpferd -- stotterte die Frau, die auch in die neue Rolle sich noch nicht recht finden konnte. Die Gräfin aber sagte mit dem Lächeln der glücklichen Mutter, indem sie Theresens Kind fest an ihr Herz drückte: So sind die Männer, über ein Pferd vergessen sie ihr Kind! Aber ich -- ich vergesse dich nicht, und nie mehr, das schwöre ich bei allen Heiligen, soll man mich auch nur auf einen Tag von dir trennen! Graf Clemens aber war nicht bei seinem Pferde, wie die Wärterin in ängstlichem Eifer log, sondern hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und dort ging der sonst so harte und gefühllose Mann händeringend auf und ab und frug mit leise zitternder Stimme sich selbst: Werde ich die Kraft haben, dies zu ertragen? Zu sehen, wie Agnes das fremde Kind in glücklicher Liebe auf den Händen trägt, während ich weiß, daß unser Liebling drunten in der kalten Gruft vermodert? -- Endlich machte seine schmerzbeladene Brust sich Luft in dem brünstigen Gebete, daß der Himmel ihnen ein zweites Kind schenken und dadurch seinem Herzen auch wieder Vaterfreude verleihen möge! sicht zuzukehren, das Zimmer. Sie frug verwundert die Wärterin, die am andern Fenster stand, was unten im Hofe vorgehe? O das Reitpferd — stotterte die Frau, die auch in die neue Rolle sich noch nicht recht finden konnte. Die Gräfin aber sagte mit dem Lächeln der glücklichen Mutter, indem sie Theresens Kind fest an ihr Herz drückte: So sind die Männer, über ein Pferd vergessen sie ihr Kind! Aber ich — ich vergesse dich nicht, und nie mehr, das schwöre ich bei allen Heiligen, soll man mich auch nur auf einen Tag von dir trennen! Graf Clemens aber war nicht bei seinem Pferde, wie die Wärterin in ängstlichem Eifer log, sondern hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und dort ging der sonst so harte und gefühllose Mann händeringend auf und ab und frug mit leise zitternder Stimme sich selbst: Werde ich die Kraft haben, dies zu ertragen? Zu sehen, wie Agnes das fremde Kind in glücklicher Liebe auf den Händen trägt, während ich weiß, daß unser Liebling drunten in der kalten Gruft vermodert? — Endlich machte seine schmerzbeladene Brust sich Luft in dem brünstigen Gebete, daß der Himmel ihnen ein zweites Kind schenken und dadurch seinem Herzen auch wieder Vaterfreude verleihen möge! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0043"/> sicht zuzukehren, das Zimmer. Sie frug verwundert die Wärterin, die am andern Fenster stand, was unten im Hofe vorgehe?</p><lb/> <p>O das Reitpferd — stotterte die Frau, die auch in die neue Rolle sich noch nicht recht finden konnte.</p><lb/> <p>Die Gräfin aber sagte mit dem Lächeln der glücklichen Mutter, indem sie Theresens Kind fest an ihr Herz drückte: So sind die Männer, über ein Pferd vergessen sie ihr Kind! Aber ich — ich vergesse dich nicht, und nie mehr, das schwöre ich bei allen Heiligen, soll man mich auch nur auf einen Tag von dir trennen!</p><lb/> <p>Graf Clemens aber war nicht bei seinem Pferde, wie die Wärterin in ängstlichem Eifer log, sondern hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und dort ging der sonst so harte und gefühllose Mann händeringend auf und ab und frug mit leise zitternder Stimme sich selbst: Werde ich die Kraft haben, dies zu ertragen? Zu sehen, wie Agnes das fremde Kind in glücklicher Liebe auf den Händen trägt, während ich weiß, daß unser Liebling drunten in der kalten Gruft vermodert? — Endlich machte seine schmerzbeladene Brust sich Luft in dem brünstigen Gebete, daß der Himmel ihnen ein zweites Kind schenken und dadurch seinem Herzen auch wieder Vaterfreude verleihen möge!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
sicht zuzukehren, das Zimmer. Sie frug verwundert die Wärterin, die am andern Fenster stand, was unten im Hofe vorgehe?
O das Reitpferd — stotterte die Frau, die auch in die neue Rolle sich noch nicht recht finden konnte.
Die Gräfin aber sagte mit dem Lächeln der glücklichen Mutter, indem sie Theresens Kind fest an ihr Herz drückte: So sind die Männer, über ein Pferd vergessen sie ihr Kind! Aber ich — ich vergesse dich nicht, und nie mehr, das schwöre ich bei allen Heiligen, soll man mich auch nur auf einen Tag von dir trennen!
Graf Clemens aber war nicht bei seinem Pferde, wie die Wärterin in ängstlichem Eifer log, sondern hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und dort ging der sonst so harte und gefühllose Mann händeringend auf und ab und frug mit leise zitternder Stimme sich selbst: Werde ich die Kraft haben, dies zu ertragen? Zu sehen, wie Agnes das fremde Kind in glücklicher Liebe auf den Händen trägt, während ich weiß, daß unser Liebling drunten in der kalten Gruft vermodert? — Endlich machte seine schmerzbeladene Brust sich Luft in dem brünstigen Gebete, daß der Himmel ihnen ein zweites Kind schenken und dadurch seinem Herzen auch wieder Vaterfreude verleihen möge!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/43 |
Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/43>, abgerufen am 16.07.2024. |