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Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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halb froh: Er sieht ganz anders aus, du hast Recht, ich hätte ihn auf der Straße nicht wiedererkannt -- aber schöner, viel schöner ist er geworden, und sein Händchen zum Munde führend, frug sie mit unaussprechlicher Zärtlichkeit: Kennst du mich noch, mein süßes Kind?

Statt aller Antwort schrie der kleine Junge, weil die Liebkosung der Gräfin ihn am Essen hinderte.

Er ist so hungrig, sagte die Wärterin, indem sie den Grafen ansah, später wird er freundlicher sein, denn er kennt Sie gewiß noch.

Die glückliche Mutter blieb nun ruhig knieend neben dem Kinde liegen und wartete ab, bis seine Mahlzeit geendigt war. Dann nahm sie ihn auf den Schooß, und da sie einiges Zuckerzeug aus der Tasche zog und es ihm anbot, sagte der Kleine auch wirklich, weil er nur von Theresen solche Näschereien empfangen hatte: Mama, Mama!

Die Gräfin drückte ihn ans Herz und blickte strahlenden Auges nach dem Gemahl, der in der Fensterbrüstung stand und, wie sie nun zu ihrer großen Verwunderung gewahrte, nicht nach ihr und dem Kinde, wie er sonst zu thun pflegte, sondern hinab nach dem Schloßhofe blickte und ihr den Rücken zukehrte.

Clemens, rief sie laut, freue dich mit mir an unserm wundervollen Kinde!

Aber der Graf, den alle Fassung verlassen, antwortete nicht, sondern verließ rasch, ohne ihr das Ge-

halb froh: Er sieht ganz anders aus, du hast Recht, ich hätte ihn auf der Straße nicht wiedererkannt — aber schöner, viel schöner ist er geworden, und sein Händchen zum Munde führend, frug sie mit unaussprechlicher Zärtlichkeit: Kennst du mich noch, mein süßes Kind?

Statt aller Antwort schrie der kleine Junge, weil die Liebkosung der Gräfin ihn am Essen hinderte.

Er ist so hungrig, sagte die Wärterin, indem sie den Grafen ansah, später wird er freundlicher sein, denn er kennt Sie gewiß noch.

Die glückliche Mutter blieb nun ruhig knieend neben dem Kinde liegen und wartete ab, bis seine Mahlzeit geendigt war. Dann nahm sie ihn auf den Schooß, und da sie einiges Zuckerzeug aus der Tasche zog und es ihm anbot, sagte der Kleine auch wirklich, weil er nur von Theresen solche Näschereien empfangen hatte: Mama, Mama!

Die Gräfin drückte ihn ans Herz und blickte strahlenden Auges nach dem Gemahl, der in der Fensterbrüstung stand und, wie sie nun zu ihrer großen Verwunderung gewahrte, nicht nach ihr und dem Kinde, wie er sonst zu thun pflegte, sondern hinab nach dem Schloßhofe blickte und ihr den Rücken zukehrte.

Clemens, rief sie laut, freue dich mit mir an unserm wundervollen Kinde!

Aber der Graf, den alle Fassung verlassen, antwortete nicht, sondern verließ rasch, ohne ihr das Ge-

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[0042] halb froh: Er sieht ganz anders aus, du hast Recht, ich hätte ihn auf der Straße nicht wiedererkannt — aber schöner, viel schöner ist er geworden, und sein Händchen zum Munde führend, frug sie mit unaussprechlicher Zärtlichkeit: Kennst du mich noch, mein süßes Kind? Statt aller Antwort schrie der kleine Junge, weil die Liebkosung der Gräfin ihn am Essen hinderte. Er ist so hungrig, sagte die Wärterin, indem sie den Grafen ansah, später wird er freundlicher sein, denn er kennt Sie gewiß noch. Die glückliche Mutter blieb nun ruhig knieend neben dem Kinde liegen und wartete ab, bis seine Mahlzeit geendigt war. Dann nahm sie ihn auf den Schooß, und da sie einiges Zuckerzeug aus der Tasche zog und es ihm anbot, sagte der Kleine auch wirklich, weil er nur von Theresen solche Näschereien empfangen hatte: Mama, Mama! Die Gräfin drückte ihn ans Herz und blickte strahlenden Auges nach dem Gemahl, der in der Fensterbrüstung stand und, wie sie nun zu ihrer großen Verwunderung gewahrte, nicht nach ihr und dem Kinde, wie er sonst zu thun pflegte, sondern hinab nach dem Schloßhofe blickte und ihr den Rücken zukehrte. Clemens, rief sie laut, freue dich mit mir an unserm wundervollen Kinde! Aber der Graf, den alle Fassung verlassen, antwortete nicht, sondern verließ rasch, ohne ihr das Ge-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/42>, abgerufen am 29.03.2024.