Mucius, rief ich. Er blickte von ihm auf mich; ein leichter Krampf zuckte um seinen Mund, und eine Blässe überflog plötzlich sein Gesicht, doch mit schnellem Uebergange schoß der ge- hemmte Blutstrom verdoppelt in seine Wangen; er schloß uns beide zugleich, mit Heftigkeit, in seine Arme, und rief: willkommen an dem Her- zen eures Bruders! dann grüßte er die Uebri- gen, und beantwortete die Fragen seines Vaters mit der gewohnten Klarheit und Ruhe. Die Mutter betrachtete ihn oft unvermerkt von der Seite, und schüttelte heimlich den Kopf, doch schien auch sie froh, daß der gefürchtete Augen- blick vorüber war. Nun ging es an ein er- zählen und erkundigen, daß die Mitternacht, ganz unbemerkt, über unsre Versammlung herein brach. Jm Ganzen hörten Mucius und ich nichts Unerwartetes. Daß ein einziger Schlag entscheiden würde, hatten wir freilich nicht vor- aus sehn können; wenn es aber doch so enden mußte, so war es gut für Frankreich, daß es schnell endete. Der Held des Trauerspiels wird hier sehr verschieden beurtheilt. Bei Extremen, denke ich, liegt die Wahrheit ziemlich in der Mitte,
Mucius, rief ich. Er blickte von ihm auf mich; ein leichter Krampf zuckte um ſeinen Mund, und eine Blaͤſſe uͤberflog ploͤtzlich ſein Geſicht, doch mit ſchnellem Uebergange ſchoß der ge- hemmte Blutſtrom verdoppelt in ſeine Wangen; er ſchloß uns beide zugleich, mit Heftigkeit, in ſeine Arme, und rief: willkommen an dem Her- zen eures Bruders! dann gruͤßte er die Uebri- gen, und beantwortete die Fragen ſeines Vaters mit der gewohnten Klarheit und Ruhe. Die Mutter betrachtete ihn oft unvermerkt von der Seite, und ſchuͤttelte heimlich den Kopf, doch ſchien auch ſie froh, daß der gefuͤrchtete Augen- blick voruͤber war. Nun ging es an ein er- zaͤhlen und erkundigen, daß die Mitternacht, ganz unbemerkt, uͤber unſre Verſammlung herein brach. Jm Ganzen hoͤrten Mucius und ich nichts Unerwartetes. Daß ein einziger Schlag entſcheiden wuͤrde, hatten wir freilich nicht vor- aus ſehn koͤnnen; wenn es aber doch ſo enden mußte, ſo war es gut fuͤr Frankreich, daß es ſchnell endete. Der Held des Trauerſpiels wird hier ſehr verſchieden beurtheilt. Bei Extremen, denke ich, liegt die Wahrheit ziemlich in der Mitte,
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Mucius, rief ich. Er blickte von ihm auf mich;
ein leichter Krampf zuckte um ſeinen Mund,
und eine Blaͤſſe uͤberflog ploͤtzlich ſein Geſicht,
doch mit ſchnellem Uebergange ſchoß der ge-
hemmte Blutſtrom verdoppelt in ſeine Wangen;
er ſchloß uns beide zugleich, mit Heftigkeit, in
ſeine Arme, und rief: willkommen an dem Her-
zen eures Bruders! dann gruͤßte er die Uebri-
gen, und beantwortete die Fragen ſeines Vaters
mit der gewohnten Klarheit und Ruhe. Die
Mutter betrachtete ihn oft unvermerkt von der
Seite, und ſchuͤttelte heimlich den Kopf, doch
ſchien auch ſie froh, daß der gefuͤrchtete Augen-
blick voruͤber war. Nun ging es an ein er-
zaͤhlen und erkundigen, daß die Mitternacht,
ganz unbemerkt, uͤber unſre Verſammlung herein
brach. Jm Ganzen hoͤrten Mucius und ich
nichts Unerwartetes. Daß ein einziger Schlag
entſcheiden wuͤrde, hatten wir freilich nicht vor-
aus ſehn koͤnnen; wenn es aber doch ſo enden
mußte, ſo war es gut fuͤr Frankreich, daß es
ſchnell endete. Der Held des Trauerſpiels wird
hier ſehr verſchieden beurtheilt. Bei Extremen,
denke ich, liegt die Wahrheit ziemlich in der Mitte,
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 2. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia02_1820/86>, abgerufen am 16.02.2025.
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